Der ewige Versuch der Juden, anzukommen
Vor ein paar Wochen betrat ich die Garderobe des Sportklubs in Wien, wo ich Tennis spiele. Eine großzügige Anlage jenseits des Stadtzentrums und der Donau mit Fußball, Volleyball, Spielplätzen, freien und überdachten Tennisplätzen und, wie der Leiter des Zentrums mir stolz bestätigte, Aktiven aus mehr als zwanzig Ländern. Dort spielen Koreaner und Inder Tennis, Tunesier und Portugiesen Fußball, Türken und Amerikaner Volleyball und natürlich sportbegeisterte Wiener, die auf dem Fußballplatz lautstark schimpfen, wenn sie in Idealposition von Mitspielern übersehen werden, in einem Dialekt, den ich hier nicht wiedergeben kann.
In der Umkleidekabine diskutierten die Fußballspieler aufgeregt in einer mir unbekannten Sprache. Im Duschbereich drängten sich die Männer. Ich entdeckte im hintersten Eck einen freien Platz und begann mich langsam unter dem heißen Wasser von der Anstrengung zu erholen, als mir auffiel, dass die Männer beim Duschen ihre Unterhosen nicht ausgezogen hatten. Sie wuschen sich unter ihren Boxer-Shorts, doch keiner von ihnen war nackt.
Ich verließ den Duschbereich und trocknete mich auf einer Holzbank sitzend, als zwei Männer plötzlich vor mir standen und einer mich auf Deutsch fragte:
»Hast du keine Kultur?«
Ich dachte sie scherzten und antwortete: »Wo soll ich die versteckt haben, nackt mit einem Handtuch?«
»Du ziehst dich hier vor Kindern aus, das gehört sich nicht!« Sagte der andere, groß mit Bartstoppeln und dunklen Haaren.
»Was für Kinder, ich sehe keine, und hier ist die Männerkabine, wo soll ich mich waschen, bei den Frauen?« Fragte ich ihn.
Er zeigte auf zwei Buben, vielleicht vierzehn Jahre alt, die wahrscheinlich mit den Männern Fußball gespielt hatten.
»Ich versteh dich nicht«, sagte ich, »das sind zwei Buben, ich sehe keine Kinder und auch keine Mädchen.«
»Du kannst dich nicht nackt ausziehen vor ihnen, du hast keine Kultur!« Sagte einer der beiden und wurde lauter.
Dann zeigte er auf meinen Anhänger auf der Halskette, auf den hebräischen Buchstaben und sagte: »Geh nach Hause, geh nach Israel, du gehörst nicht hierher!«
Ich beschrieb die Situation in einer kurzen Mail an den Leiter der Anlage. Er entschuldigte sich ein paar Tage später und sagte, es seien Tunesier gewesen, und er habe sie mit einer Platzsperre von drei Wochen bestraft. Wieder eine Woche später rief er mich an und meinte, es seien nicht die Tunesier, sondern die Libyer gewesen, und die Tunesier meinten, man sollte die Libyer nicht nur ein paar Wochen sperren, sondern sie überhaupt aus dem Klub werfen.
Ich dachte mir, wie wohl die Tunesier auf meinen Anhänger reagiert hätten. Oder Spieler aus anderen arabischen Ländern, ertappte mich bei dem Gedanken, die Kette eventuell abzulegen, wenn ich mich in der Garderobe ausziehe, und ärgerte mich sofort. Wenn ich anfange, meine Herkunft und Zugehörigkeit schon in den Duschanlagen eines Sportklubs zu verstecken, wie viele Einschränkungen kann man noch akzeptieren? Aus Vorsicht, aus Angst?
Verlust des Alltags
Schon jetzt ist ein Besuch der Synagogen komplizierter als das Betreten eines Gefängnisses für Schwerverbrecher. Jüdische Schulen und Kindergärten gleichen eher bewachten Festungen als Gebäuden, in denen Kinder die besten Jahre ihres Lebens verbringen. Orthodoxe Juden meiden etliche Bezirke von Wien und religiöse Juden, die eine Kippa tragen, verbergen sie unter einer Baseball-Kappe. Gleichzeitig hat das jüdische Leben in Wien einen Aufschwung erlebt. Im 2. Bezirk, der ehemaligen ›Mazzes-Insel‹, wo vor dem Krieg die jüdische Bevölkerung von Wien sich konzentrierte, öffneten in den letzten Jahren koschere Bäckereien und Supermärkte und zahlreiche Yeshiva, jüdische Schulen, in den die Tora gelehrt wird. Ein Widerspruch oder der jüdische Alltag, der sich seit Jahrhunderten nicht verändert hat?
Jeder Anschlag, jeder Mord, jedes Attentat beeinflusst diesen Alltag, doch auch die Anpassung an veränderte Gegebenheiten. Ankündigungen der Politiker, jüdische Einrichtungen noch mehr zu sichern, sind zwar rational richtige Entscheidungen, doch sie bedeuten eine weitere Einengung des täglichen Lebens der Juden. Wenn vor jeder koscheren Bäckerei und jedem israelischen Restaurant ein bewaffneter Sicherheitsdienst steht, zwängt man uns in eine Situation, die einem ›offenen Gefängnis‹ gleicht und erinnert uns tagtäglich in jeder Alltagssituation mit welchen Gefahren Juden hier leben.
Sie stehlen uns den Alltag, die Gleichgültigkeit, Banalität und Unbeschwertheit des Alltags. Wir bezahlen für die Sicherheit, die uns die Gesellschaft gewährt, mit einem reduzierten Leben, in dem wir uns ständig überlegen, ob es ratsam sei, unsere Herkunft zu zeigen. Das führt zu Ghetto-Bildungen, nicht nur für religiöse und orthodoxe Juden, die in bestimmten Bezirken sich niederlassen, sondern auch auf einer psychischen Ebene, man umgibt sich mit Menschen, denen man vertraut und weicht bestimmten Diskussionen aus – vor allem, wenn es um Israel geht.
Seit 200 Jahren in Wien
Wie fremd sind Juden in Wien? Meine Vorfahren siedelten sich bereit im 18. Jahrhundert in Wien an. Sie kamen aus Sichrov, einem kleinen Ort südlich von Prag und aus dem Ortsnamen wurde ›Sichrovsky‹ zu einer Zeit, als die Verwaltungen Familiennamen nach Ortschaften und Ländern verteilten.
Heute noch erkennt man italienische Juden an den von Städtenamen abgeleiteten Namen. 1829 taucht in den Dokumenten zur Errichtung des Wiener Stadttempels in der Seitenstettengasse der Name Elisabeth Sichrovsky auf. Als Mitglied des Bauausschusses gilt sie als eine der Gründerin der heute noch aktiven Synagoge. Ihr Sohn Heinrich Sichrovsky wurde als Generalsekretär der Nordbahn, der ersten Bahnlinie in der Monarchie, mit dem Ritterstand geehrt und war der erste österreichische Jude, dem das Bürgerrecht der Stadt Wien verliehen wurde. Seine Tochter, Elisabeth Gomperz (ehemals Elisabeth Sichrovsky), kommt in allen Biographien von Sigmund Freud vor als eine seiner ersten Patientinnen. Ihr Sohn, Rudolf Gomperz, plante und baute die ersten Seilbahnen in St. Anton und gilt als einer der Väter des Schizentrums Arlberg.
Doch was nützte das alles. Wenige Jahre nach all den Ehrungen wurde Rudolf Gomperz in St Anton von der SS abgeholt und in einem Konzentrationslager ermordet. Meine Großmutter versteckte sich mit der jüngsten Schwester meines Vaters im Keller ihres Wohnhauses in der Praterstraße in Wien. Der Hausmeister verriet sie. Keiner hat überlebt.
Das alles ist Geschichte und darf sicherlich niemals vergessen werden, dennoch muss es ein Heute und Jetzt geben. Die Wiener Gemeinde hat noch etwa zehntausend Mitglieder, vor dem Krieg waren es mehr als 200.000. In Wien geboren fühlte ich mich nie als Opfer und verglich meine Situation nicht mit dem Schicksal der Holocaust-Überlebenden, mit deren Erlebnissen und Geschichten ich aufgewachsen bin. Meine Kindheit war nicht geprägt von Antisemitismus und Vorurteilen, wenn auch das ›Anders Sein‹ immer wieder spürbar war. Wie am ersten Schultag, als wir hintereinander in einer Reihe standen und dem Lehrer unser Religionsbekenntnis mitteilten. Als er mich fragte, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Meine Eltern hatten mich dafür nicht vorbereitet, und ich antworte ihm, ich sei gar nichts.
Vor kurzem nahm ich an einer Diskussion bei ServusTV teil. Der Moderator fragte mich, wie sich die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde fühlten nach dem Anschlag, der vor der Synagoge, in der Seitenstettengasse, begonnen hatte. Ich stockte einen Moment und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Sind wir Juden in Wien und froh, dass niemand in der Synagoge war, oder sind wir Wiener, denen der Anschlag galt, und die vielleicht nach dem Gottesdienst vor der Synagoge in einem Café saßen? Ist diese Stadt mit meiner 200 Jahren langen Familiengeschichte Heimat, oder sind wir immer Fremde, sogar für jene, die erst vor kurzem hierher gekommen sind?
Zuerst erschienen in NEWS.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER