Photo: scottagunn, CC BY-NC 2.0
Die Normalitäts-Lüge
Schon meine Eltern – 1946 aus der Emigration nach Wien von London zurückgekehrt – erzählten folgenden Witz:
Im Herbst 1945 steht ein Jude am Bahnsteig in Wien mit drei schweren Koffern und fragt einen der ankommenden Reisenden: ‚Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht ein Antisemit?’
‚Also, was glauben Sie eigentlich!‘, entgegnete der Mann empört und ging weiter.
Also fragte der Jude den Nächsten: ‚Es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber sind Sie vielleicht ein Antisemit?’
Auch dieser reagierte verärgert und schimpfte laut. Aber der Jude gab nicht auf und fragte einen anderen, der aus dem Zug ausstieg.
Und dieser antwortete: ‚Naja, wenn Sie mich so direkt fragen, ich kann sie eigentlich nicht leiden’.
‚Das ist gut’, antwortete der Jude. ‚Endlich einer, der ehrlich ist. Ich müsste dringend auf die Toilette, könnten Sie so lange auf meine Koffer aufpassen?’
Zwei Generationen später
Fast zwei Generationen nach dem Holocaust versuchen es die Juden in Österreich immer noch mit der sogenannten Normalität – was immer darunter zu verstehen sei. Einige unter ihnen haben es weit gebracht in diesem Land, sind reich geworden, haben Orden und Titel gesammelt, und in nicht wenigen Fällen hat das Judentum manche Tür geöffnet, die anderen verschlossen blieb.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde darf bei den verschiedensten Festakten in der ersten Reihe sitzen, und wenn Politiker nach Israel reisen, nehmen sie zur Sicherheit auch einen Vertreter der Gemeinde mit.
Bösartige Juden (zu denen ich mich zähle) nannten diese Form des Erfolgs durch Anbiederung und Anpassung die sogenannte ‚Zäpfchen-Karriere’ der Juden, wenn sie sich sozusagen im verlängerten Rücken des nicht-jüdischen Österreichs langsam auflösten. Vielen Überlebenden konnte man diese Form der Selbstaufgabe nicht einmal vorwerfen. Sie kamen als gebrochene Menschen aus den Lagern zurück und wollten einfach nur ein sorgenloses Leben.
Andere, vor allem die Jüngeren, versuchten den Widerstand. Während der Studentenrevolte in den 1960-iger Jahren schlossen sich die meisten jüdischen Studenten entweder den Maoisten oder den Trotzkisten an, und natürlich war auch der Vorsitzende der Kommunistischen Studenten ein Jude.
Tabubruch
Offener Antisemitismus wurde nicht mehr geduldet, er spielte sich mehr im Verborgenen ab. Dort jedoch war er immer noch ein fast alltägliches Erlebnis für die jüdische Bevölkerung. Man sprach jedoch nicht gerne darüber in den jüdischen Familien. Der Vorwurf des Antisemitismus wurde zum absoluten Tabubruch in der Nicht-Jüdischen Gesellschaft erklärt. Als Jude sah man dem Treiben interessiert zu, doch es schaffte weder die ersehnte Sicherheit noch das Gefühl, hier angekommen und zu Hause zu sein.
Als meine Eltern 1968 aus der KPÖ austraten, läutete immer wieder unser Telefon mitten in der Nacht. Wir lebten in einem kleinen Reihenhaus am Rosenhügel im 12. Bezirk, die Schlafzimmer waren im ersten Stock. Ich hörte meinen Vater die Stiegen hinuntergehen, als das Telefon läutete. Er antworte, sprach jedoch nicht weiter und legte wieder auf. Nach dem dritten oder vierten Mal ging er nicht mehr hinunter zum Telefon und ließ es läuten. Ich war neugierig, sprang aus dem Bett, lief die Stiegen hinunter und hob den Hörer ab.
‚ Saujud! Verräter! Wir kriegen dich noch!’, brüllte eine männliche Stimme.
Es war das erste Mal, dass ich mit dieser Form des Hasses direkt konfrontiert wurde. Während meiner Schulzeit waren es eher ungewöhnliche Erlebnisse und nicht die direkte Konfrontation.
Am ersten Schultag mussten wir uns in einer Reihe hintereinander anstellen und einer nach dem anderen trat vor zum Lehrer und sagte ‚katholisch’ oder ‚evangelisch’. Meine Eltern hatten mich auf dieses Erlebnis nicht vorbereitet, so wechselte ich immer wieder den Platz mit einem, der hinter mir stand, bis ich als letzter vortrat und dem fragenden Gesicht des Lehrers antwortete: ‚Ich bin gar nichts’.
Worauf er antwortete: ‚Ah, du bist der! Na, ist schon in Ordnung.’
Später schrieb ich ein Buch über die Generation der Juden, die nach dem Krieg geboren wurden und über die Beziehungen zu ihren Eltern sprachen. Über das Schweigen der Überlebenden, ihre Ängste und Unsicherheiten, und die Gewissheit, dass es in ihrem Leben keine Form der Normalität mehr geben würde. Der Holocaust übertrug sich auf die nächste Generation und beeinflusste auch jene, die selbst den Krieg nicht erlebt hatten, jedoch mit den Überlebenden aufwuchsen.
FPÖ
1996 kandidierte ich für die FPÖ und löste damit einige heftige Reaktionen aus. Mit dem Argument, man hätte dies nicht von einem ‚Juden’ erwartet, bewies man das Gegenteil der immer wieder betonten Normalität und verbiss sich in die eigene Erwartungshaltung, die die Möglichkeiten für ‚Juden’ auch in der Alltagspolitik einschränkte. War diese Entscheidung für Nicht-Juden eventuell ein politischer Fehler, war es für den Juden ein ‚Verrat’.
Als ich einem der Journalisten entgegnete, dass die Erlaubnis, heute auf einer Parkbank zu sitzen, nicht auch beinhalte, welcher Partei ich mich anschließe, beschimpfte mich dieser und verlor die Kontrolle. Bei meiner Nominierung als Generalsekretär der FPÖ stimmte ein Mitglied des Parteivorstands dagegen. Ein Offizier des Bundesheeres meinte, das sei der FPÖ nicht zumutbar. Irgendwie mochte ich ihn, er war wenigstens ehrlich.
Mein Vater sagte einmal, der Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern im Verhältnis zu den Juden, sei wie der Unterschied zwischen Antisemitismus und Holocaust – weniger perfekt und nicht so gut organisiert. Er musste es wissen. Bis zum Anschluss lebte er in Wien und rettete sich dann nach England.
Sie ist immer vorhanden diese Stimmung, dieses Gefühl, mal mehr verdeckt, dann wieder offener. Es liegt an jedem einzelnen Juden, wie er/sie damit umgeht. Manche reagieren gelassen und ignorieren es. Andere sind empört, zeigen es auf, protestieren und versuchen es zu verhindern.
Doch – und das wird die nicht-jüdische Gesellschaft nie begreifen – wir wissen immer ganz genau, was hier gespielt wird. Wir spüren Bewegungen und Stimmungen lange bevor sich andere empören. Wir lesen zwischen den Zeilen, erkennen Signale und durchschauen Situationen. Wir sind extrem wach und sensibel gegenüber diesem Verhalten, den kaschierten Vorurteilen aber auch der aufgesetzten Empörung.
Man kann uns nichts vormachen mit umständlichen Erklärungen von links bis rechts, dass ja mit ‚Silberstein’ NUR eine unfaire Attacke kritisiert werde. Wir wissen, wer eigentlich gemeint ist – denn wir sind alle Silbersteine.
Danke für das Lob. Meine Mitarbeit bei der FPÖ mit einigen anderen war der Versuch, die Partei mehr ‚zur Mitte‘ zu bewegen, ist leider schief gegangen.
VG
Peter Sichrovsky
Gibt es nur mehr in Antiquariaten, kann aber über Amazon bestellt werden.
VG
Peter Sichrovsky
Mich hat nie jemand vermisst, weil ich immer da war…
Wieder aufgetaucht, der Herr Sichrovsky?
Ich hab ihn nicht vermisst.
Der Autor wird Ihren Kommentar ehest möglich beantworten, ist aufgrund einer Übersiedlung aber gerade ohne Internet. In seinem Namen ersuche ich um ein wenig Geduld.
Der Autor wird Ihren Kommentar ehest möglich beantworten, ist aufgrund einer Übersiedlung aber gerade ohne Internet. In seinem Namen ersuche ich um ein wenig Geduld.
Ein grandioser Artikel! Berührend, beschämend und doch witzig zugleich. Vor allem aber: entlarvend UND unaufgeregt (wie eigentlich fast alle Ihrer Beiträge).
Ich wollte mir auf Amazon „mehr von Ihnen“ holen, leider ist nichts mehr lieferbar. Oder werden Sie von Amazon boyottiert?
Großartiger Beitrag! Warum sind Sie, geschätzter Herr Sichrowsky, Mitarbeiter der FPÖ geworden, die bekanntlich eine Nachfolgeorganisation der NSDAP ist. Sehen Sie die Chance einer Aussöhnung dieser Partei mit dem Judentum?