Photo: Josef Löwy, gemeinfrei
Vom Versuch eines Neubeginns ohne Vergangenheit
»George kommt nicht zur Weihnachtsfeier«, sagte Ian, der Captain des Tennisklubs in Guildford, südlich von London, der zwar wenig zu sagen hat im Verein, aber die Weihnachtsfeier organisieren darf.
»Und warum nicht?«, fragte ein anderer Spieler.
»Es geht ihm nicht so gut, ich glaube, er ist ernsthaft krank«, sagte Ian.
Wir schwiegen eine kurze Zeit in dieser Runde der älteren Herren, die sich jeden Mittwoch- und Freitagvormittag zum Tennis trifft. Erkrankungen sind nichts Ungewöhnliches hier, doch wenn einer aufhörte Tennis zu spielen oder nicht mehr zu den Feiern kam, war es meist der Anfang vom Ende.
»Übrigens«, Ian wandte sich an mich, »George wollte deine Telefonnummer, er möchte dich gerne treffen. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich ihm deine Nummer gab.«
»Mich? Warum mich, ich kenne ihn kaum«, antwortete ich und dachte einen Moment an die eher langweiligen Spiele, wenn mich das Los mit George als Partner zu einem Doppel verpflichtete. Er war über achtzig, zwar schlank und sportlich aber langsam, und seine Augen spielten ihm immer wieder einen Streich, sodass er viele der Bälle, die auf ihn zukamen, einfach verfehlte.
»George wurde in Wien geboren und ist kurz vor dem Krieg mit seinen Eltern nach London geflüchtet. Ich habe ihm erzählt, dass du auch aus Wien kommst«, sagte Ian.
George rief mich ein paar Tage später an und lud mich zu Kaffee und Kuchen in sein Haus ein, das etwa eine halbe Stunde von mir entfernt ist. Wann es ihm den recht wäre, fragte ich ihn, und er antwortete, es läge ganz bei mir, er habe immer Zeit, ich sollte jedoch nicht zu lange warten, da er nicht sicher sei, wie es mit ihm gesundheitlich weitergehe. Er machte eine Pause und sagte plötzlich: »Warum kommst du nicht einfach heute Nachmittag, wenn es dir ausgeht?« Ich konnte nicht nein sagen.
Das Haus ist in Woking, nur eine Station mit der Bahn von Guildford. Vom Bahnhof geht man etwa 20 Minuten bis zu seinem Haus durch Straßen mit winzigen Reihenhäusern und kleinen, gepflegten Gärten vor den Häusern und etwas größeren dahinter.
George bat mich ins Wohnzimmer in seinem schmalen Haus, das nicht viel breiter war als das Zimmer, mit Fenstern zur Straße, der Küche dahinter zum Garten und den Treppen daneben in das obere Stockwerk. Er bat mich ein paar Minuten zu warten, verschwand in der Küche und ließ mich alleine in einem weichen Sessel gegenüber einer Sitzbank, über der ein alter Druck von Wien hing, auf dem man die Stadtmauern und inmitten der niedrigen Häuser den Stephansdom als einziges hohen Gebäude erkennen konnte. An der Wand hinter meinem Sessel hingen alte Fotos. Männer in Anzügen, stramm aufrecht stehend, vor ihnen Frauen sitzend in langen Kleidern, und am Boden Kinder mit alten Gesichtern, als seien sie schon als Erwachsene geboren worden. Daneben ein paar alte, vergilbte Programme der Wiener Oper hinter Glas mit dunklen Holzrahmen. Ich stand auf und versuchte, die Jahreszahlen zu entziffern. Auf einem Blatt aus dem Jahr 1931 wurde Mozarts Zauberflöte angekündigt. Ein anderes stammte aus 1929 und auf dem Papier schien jemand mit einem Bleistift etwas geschrieben zu haben.
George kam zurück ins Wohnzimmer und sagte: »Das sind Erinnerungen meiner Eltern. Mein Vater liebte die Oper. Später, als wir in London lebten, ging er regelmäßig in die Royal Opera und schimpfte nach jeder Aufführung, dass die Engländer keine Ahnung hätten, wie man eine Oper inszenieren müsse.« Er lächelte und sah müde aus mit seinen dünnen, grauen Haaren, leicht nach vorne gebeugt, und den dunklen Augen, sich immer wieder an die Lehne des Sessels stützend.
»Wir konnten 1938 in letzter Minute noch Wien verlassen. Ich war ein kleiner Bub und hatte nichts mitbekommen, und das schlimmere Erlebnis war für mich der Kindergarten in London, wo ich niemanden verstehen konnte, und nicht die Flucht aus Wien.«
»Ich wusste gar nicht, dass du aus Wien kommst«, sagte ich.
»Ich spreche nicht gern darüber, und als ich erfuhr, dass du Wiener bist, haben mich all die Erinnerungen wieder so beschäftigt, dass ich dich nicht ansprechen wollte. Doch jetzt bin ich froh, dass du da bist.«
Er erzählte von der Flucht seiner Eltern. Wie sie alles monatelang vorbereitet hatten, bis es fast zu spät war Wien zu verlassen. Die ganze Einrichtung sei Stück für Stück von Wien nach London gebracht worden, und der Vater wollte alle Zimmer genauso einteilen, wie die Wohnung in Wien ausgesehen hatte. Was nicht mehr nach England transportiert werden konnte, wurde mit Möbelstücken ersetzt, die er anderen Emigranten abkaufte, da er sich weigerte, englische Kästen, Tische oder Sessel zu kaufen. Von Bildern ganz zu schweigen. George erlebte später, als er älter wurde, das Zuhause seiner Eltern in England wie ein Museum, eher erdrückend und als Belastung, und war froh, als er nach der Matura endlich ausziehen konnte.
George identifizierte sich als Engländer, studierte Chemie und arbeitete viele Jahre in einem Forschungszentrum der pharmazeutischen Industrie bis ihn die Universität, auf der er studiert hatte, als Professor zurückrief.
»Wien interessierte mich nicht mehr«, erzählte er. »Ich fühlte mich in London wohl, sprach außer mit meinen Eltern mit niemandem deutsch und kritisierte meine Eltern oft, dass sie nicht aufhören konnten, in der Vergangenheit zu leben. Doch es gelang mir nicht, sie auch psychisch nach London zu holen. Meine Großeltern, die Eltern sowohl meines Vaters als auch meiner Mutter, sind in Wien geblieben und haben nicht überlebt. Weder mein Vater noch meine Mutter sind je darüber hinweggekommen. Beide sind früh gestorben und waren nie glücklich in London.«
Es war für mich nicht einfach ihm zuzuhören. Jedes Wort erinnerte mich an meine eigene Familiengeschichte. Er saß da und murmelte mehr vor sich hin, als dass er mich ansprach, erzählte von seiner Frau, seinen Kindern und Enkeln und betonte immer wieder den Unterschied zwischen dem Leben seiner Eltern, seinem eigenen und dem seiner Familie.
»Als jedoch meine Eltern tot waren, sie starben kurz hintereinander, ich sie auf dem jüdischen Friedhof in London begraben hatte und versuchte, ihre Sachen zu ordnen und durchzusehen, endete mein Traum vom perfekten englischen Leben. Da lagen die Erinnerungen meiner Eltern vor mir, Bilder, Dokumente, Zeugnisse und die Tagebücher meines Vaters. Familienfotos verschiedenster Generationen bis weit zurück in die Anfänge der Fotografie. Und mein geschichtsloses Leben, das ich in London versucht hatte, funktionierte nicht mehr. Meine Frau kommt aus Bristol. Sie spricht nicht Deutsch. Die Vergangenheit meiner Familie hat sie nie interessiert. Meine Kinder kennen Wien nur als Touristen und es ist für sie eine Stadt wie Venedig oder Paris mit ein paar Museen und Sehenswürdigkeiten und einer absurd schweren, fetten Kost, wie sie es beschreiben. Aber mit diesen Mosaikstücken des Lebens meiner Eltern und der Wohnung in London mit den Wiener Möbeln und den alten Bildern an der Wand, musste ich erkennen, dass auch ich ein Stein in diesem Mosaik bin. Ich wollte einen Neubeginn ohne Vergangenheit und jetzt lag sie plötzlich vor mir.«
Dann sprang er plötzlich auf, lief in die Küche und fluchte, dass er die Knödel vergessen hatte.
»Was für Knödel?«, fragte ich ihn und folgte ihm in die Küche.
»Ich habe Zwetschkenknödel für uns gemacht. Das hat meine Mutter jeden Sonntag gekocht und manchmal ging sie durch ganz London von einem Geschäft zum anderen, um Zwetschken zu finden.«, antworte er vor dem Herd stehend, nahm die Knödel, einen nach dem anderen, aus dem kochenden Wasser und legte sie in eine Pfanne, in der er langsam die Brösel röstete, und rollte die Knödel hin und her bis sie völlig braun von den dunklen, angebrannten Bröseln waren.
Wir saßen uns gegenüber am Küchentisch. Die Knödel waren zu weich, George hatte sie zu lange im Wasser gekocht, und er entschuldigte sich. Wir hatten jeder etwa fünf Knödel auf dem Teller und ich wusste nicht, wie ich all diese aufgeweichten, wässrigen Dinger mit den angebrannten Bröseln essen sollte.
»Eigentlich wollte ich dich wegen etwas anderem sprechen«, sagte er plötzlich und legte den Löffel weg. Auch ich hörte auf zu essen und sah ihn an.
»Ich bin krank, sogar sehr krank. Und da ich mich mehr als 30 Jahre mit Krebsforschung beschäftigt hatte, kenne ich mich besser von innen als von außen. Ich komme nicht mehr zum Tennis und kann auch die bedauernden Worte meiner Freunde dort nicht mehr hören. Ich möchte Dir die paar Erinnerungsstücke meiner Eltern aus Wien geben. Wenn ich sie meiner Frau lasse oder meinen Kindern gebe, werden sie alles verkaufen oder einfach an Leute verschenken, die keine Beziehung dazu haben. Es sind nur ein paar alte Bilder, ein paar Bücher und wie du im Wohnzimmer gesehen hast, die Listen der Besetzungen alter Opernaufführungen.«
Ich versuchte es mit Optimismus und meinte, es gäbe doch immer wieder Überraschungen und unerwartete Heilungen bei noch so schweren Erkrankungen, und er solle doch warten, wie es weitergehe, bevor er an das Ende denken würde.
»Spar dir deine netten Worte«, widersprach er mir. »Es geht nur mehr um Wochen. Doch es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Meine Eltern sind den Gaskammern entkommen, und ich hatte ein schönes, langes Leben, habe Kinder und Enkelkinder. Aus dem Zufall entwickelte sich neues Leben und das hat nichts mehr mit Wien zu tun. Das stirbt mit mir, Wien ist tot, und das ist gut so. Meine Kinder und Enkel sollen durch die Vergangenheit nicht mehr belastet sein. Es genügt, wenn mich das plötzlich als alter Mann noch verfolgt.«
Seine Stimme und sein Gesicht passten nicht zu den versöhnlichen Worten. Es klang hart und unversöhnlich, als würde er sich ärgern, dass ihn nach all den Jahrzehnten der Verdrängung der Schrecken der Eltern und Großeltern noch eingeholt hätte.
Zwei Wochen später starb George. Ich ging zum Begräbnis und traf seine Familie. Seine Frau fragte mich, wer ich sei, und als ich ihr vom Tennisklub erzählte und dass ich George noch besucht hätte, reagierte sie verwundert, er habe ihr nie davon erzählt. Er wurde neben seinen Eltern begraben. Beim Verlassen des Friedhofs fragte ich seine Frau, wann ich die Bilder und Bücher von George abholen könnte.
»Was für Bilder und Bücher?« fragte sie mich.
»Die Sachen aus Wien von seinen Eltern. Er meinte, ich sollte sie aufheben«, antwortete ich ihr.
»Er hat mir nie etwas davon gesagt. Jetzt ist es zu spät. Das habe ich alles längst von einem Antiquitätenhändler abholen lassen.«, sagte sie, drehte sich weg und ging zum Auto ihres Sohnes ohne sich zu verabschieden.
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