WIE MACHEN DIE JUDEN DAS?

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Albert Einstein by Orren Jack Turner, Public Domain

Ein Weckruf für die Bildungssysteme in Österreich und der OECD

Bis zu 40% aller Nobelpreisträger sind Jüdinnen/Juden bzw. jüdischer Abstammung – bei einem weltweiten jüdischen Bevölkerungsanteil von lediglich  0,2%! Der Großvater Hausierer, der Sohn Kaufmann, der Enkel Wissenschaftler, gar Nobelpreisträger. Diese Biographie ist nicht selten zu finden.

Wie machen die Juden das? Hat das gar etwas mit Schwimmen zu tun?

Den Aspekten des traditionellen jüdischen Bildungssystems konsequent auf den Grund zu gehen, wäre für den meist optimierbaren Bildungserfolg der sogenannten »Mehrheitsbevölkerungen« nutzbringender, als ihre Energie für dümmlichen  Antisemitismus und Antizionismus zu verschwenden!

1. Die Wurzeln der traditionellen jüdischen Schule

Eine erkennbare jüdische Schulsystematik lässt sich seit dem Babylonischen Exil (600 v.C.) ausmachen. War das Studium der jüdischen Bibel, der Tora, für Männer schon zuvor ein zentrales religiöses Gebot, so schaffte das Exildasein weitere Lernmotivationen – die Festigung der Gruppenidentität durch Stärkung der  kulturellen Tradition, das Bestreben, wirtschaftlich erfolgreich zu sein und die Etablierung in der Verwaltungshierarchie Babylons. All dies ist gelungen.

Die osteuropäische Herkunft zahlreicher Nobelpreisträger ist möglicherweise auch in der Vielsprachigkeit jener mehr als fünf Mio. Juden mitbegründet, die im 19. Jahrhundert im sogenannten Siedlungsrayon, der sich zwischen dem Schwarzen Meer und dem Baltikum erstreckt hat, gelebt haben. Sie sind in großer Zahl um 1900 nach Amerika ausgewandert.

Hebräisch war die Sprache des Gottesdienstes, Jiddisch die Umgangs- und Geschäftssprache, und die jeweiligen Landessprachen – polnisch, russisch, ungarisch, ukrainisch, litauisch und deutsch – wurden auch alltagstauglich beherrscht. Hebräisch und Jiddisch werden in unterschiedlichen Schriftformen von rechts nach links geschrieben, die slawischen Sprachen in kyrillisch oder in lateinischer Schrift (polnisch) von links nach rechts. Dass diese extreme Vielseitigkeit im Sprach- und Schriftbereich einen gewaltigen »Intelligenzturbo« darstellt, ist einleuchtend.

2. Eine Religion des Ungehorsams?

Im Judentum ist jeder aufgefordert, die Tora zu lesen und diese eigenständig zu interpretieren und gemeinsam zu diskutieren. Im Christentum  obliegt die Auslegung der Heiligen Schriften Theologen. Der im Judentum individuelle Umgang mit den Heiligen Schriften dürfte über die Jahrtausende hinweg die Kreativität, die Phantasie und die Argumentationsfähigkeit befeuert haben.

Folgerichtig versteht sich das Judentum im Gegensatz zum Christentum als eine Religion des Ungehorsams – eine Tradition, die mit Adam und Evas »Fehlverhalten« im Paradies begonnen hatte. Der jüdische Gott ist nicht unfehlbar. Mehrfach wurde er symbolisch vor ein rabbinisches Gericht gerufen – zuletzt in Auschwitz. Die damalige causa: »Ja, wir haben gesündigt, doch diese Strafe ist unverhältnismäßig.« Dieses Hinterfragen der Unfehlbarkeit Gottes hat das bekannte antisemitische Vorurteil verursacht, die Juden hätten vor Gott »keinen Respekt«.

Der epochale gesellschaftliche »Ungehorsam« des 19. Jahrhunderts, der Sozialismus, wurde nicht zufällig von Juden, die aus einem teils tief religiösen Umfeld stammten – Eduard Bernstein, Ferdinand Lasalle, Karl Marx – ins Leben gerufen.

3. Frühes Lernen, früher Schuleintritt

Das Schuleintrittsalter war unterschiedlich, doch schon früh wurden Buben ab etwa dem 4. Lebensjahr systematisch im Schreiben und Lesen unterrichtet. Doch »unterrichtet« wurde bereits zuvor, denn die Väter hatten die religiös motivierte Pflicht, den Kindern im Interesse des göttlichen Auftrags »seid fruchtbar und mehret euch« möglichst frühzeitig das Schwimmen beizubringen! Warum?

Immer schon ist es eine probate, weil keine Spuren hinterlassende Methode gewesen, sich unerwünschter Lebewesen dadurch zu entledigen, dass man sie ins Wasser geworfen hat. Im Zuge von Pogromen ist dieses Schicksal tausendfach kleinen jüdischen Kindern widerfahren. Der neugeborene Moses ist diesem Schicksal knapp entronnen – er wurde freundlicherweise in einer Schachtel den Nilfluten übergeben. Heute weiß man, welch eminente Auswirkungen bewusstes und frühes Bewegungstraining auf die geistige Entwicklung hat. 

Frühes Lernen – von Jesus muss man annehmen, dass er, der mit 12 Jahren die Schriften mit den Gelehrten auf Augenhöhe diskutiert hat, bereits in sehr jungen Jahren die Toraschule besucht hatte.

Jesus ist nur einer von vielen hochbegabten Jugendlichen gewesen, die im Laufe der Geschichte von den arrivierten Schriftgelehrten als Diskussionspartner akzeptiert worden sind. Auch der Philosoph Salomon Maimon (1751–1800) hat bereits als Bub die Aufmerksamkeit der Rabbiner erregt. Jesus ist somit ein Produkt der bewundernswerten jüdischen Hochbegabtenförderung gewesen.

In unserem Bildungssystem werden überdurchschnittlich Begabte zumeist als »den Durchschnitt in Unordnung bringende Störfaktoren wahrgenommen«. Viele Hochbegabte enden daher heute als Schulversager – dies ist eine der traurigsten und verheerendsten Aspekte unseres Bildungssystems!

Dieser frühe Beginn des Unterrichts im traditionellen jüdischen Schulwesen nutzt den Umstand, dass unsere Lernfähigkeit sich mit dem Beherrschen der Muttersprache zu einem Höhepunkt entwickelt hat – bis zum 3./4. Lebensjahr vollbringen wir die größte Lernleistung unseres Lebens.

Die frühe jüdische Schule nutzt diesen Zenit und führt das Lernen behutsam fort, während vor dem zu späten Schuleintritt mit 6 Jahren die Lernkurve deutlich sinkt und dann erst mühsam wieder aktiviert werden muss. Daher beschert der frühe Schuleintritt den Kindern einen deutlichen Vorsprung. Neue Studien sagen zudem, dass jene Finanzmittel, die in die früheste Bildung investiert werden, 6- bis 14-mal so effizient eingesetzt sind, als wenn sie später zur Reparatur von Bildungsdefiziten eingesetzt werden müssen.

Unser Normschuleintrittsalter von 6 Jahren beruht auf einem Kompromiss zwischen den Beratern von Kaiserin Maria Theresia – unter ihnen der jüdischstämmige Joseph von Sonnenfels –, die einen sehr frühen Schuleintritt befürwortet haben, und den Gutsherren, die aus naheliegenden Gründen (Kinderarbeit) die Schulpflicht teils überhaupt ablehnten und deren Beginn weit später ansetzen wollten. Für den Erfolg des Bildungssystems des jüdischen Kulturkreises dürfte der frühe Beginn systematischer Bildung wesentlich mitentscheidend sein.

4. Keine Bildung für Mädchen?

Die Schulpflicht im Judentum betraf bis in das 19. Jahrhundert primär die Buben. Doch war auch unter den jüdischen Mädchen der Alphabetisierungsgrad ungleich höher als jener der Mehrheitsbevölkerung. Offenbar waren die Mädchen typische »Kompensationslernerinnen«, denn was verboten ist (in diesem Falle der Schulbesuch), erregt bekanntlich besonderes Interesse.

Vor allem auch die beengten Wohnverhältnisse bewirkten, dass sich das schulische Wissen der Brüder auf die Schwestern übertrug. Da die Buben »institutionell« im Cheder bzw. in der Schule, die Mädchen aber eher »informell« in der Familie lernten, fand das Lernen der Buben viel stärker Eingang in die Literatur als jenes der Mädchen. Es ist zu vermuten, dass sich in vielen Familien der Bildungsstand der Buben und Mädchen nicht wesentlich voneinander unterschieden hat.

Ein früher Beleg für den hohen Bildungsgrad der Mädchen ist  die berühmte Autobiographie der deutschlandweit aktiven Geschäftsfrau Glikl von Hameln (1646-1724). Auch der große Anteil der Frauen an den Kulturleistungen des jüdischen Kulturkreises spricht für die Effizienz des »informellen Lernens« der jüdischen Mädchen!

Der bildungsbürgerliche »Salon«, der als geistig/politisch/künstlerisches »Treibhaus« fungierte, und der sich im 19. Jahrhundert nach und nach in allen europäischen Hauptstädten etabliert hat, ist eine Erfindung der jungen Berlinerin Rachel Antonia Friederike Varnhagen (1771 – 1833) gewesen.

5. Hier geht es zu wie in einer Judenschul!

Dieser meist mit antisemitischem Unterton verwendete »Ausruf« wurzelt in mehreren bedeutenden Spezifika der traditionellen jüdischen Schule. »Schul« ist der seit dem Mittelalter gebräuchliche jiddische[1] Begriff für die Synagoge, die auf Hebräisch »Beit Knesset« genannt wird. Dies bedeutet »Haus der Versammlung«. Folgerichtig heißt auch das israelische Parlament »Knesset«.

Die Synagoge ist ein Haus des Lernens, des Diskutierens, der oft lautstarken kollektiven Konfliktlösung und der gemeinsamen Religionsausübung. Die berühmteste Synagoge Prags heißt noch heute »Altneuschul«. Mit der mythisch-feierlichen Stimmung der christlichen Gottesdienste hat die Lebendigkeit der Synagoge nichts gemein.

Früh etablierten sich über die Synagoge hinaus weitere Räumlichkeiten für den Unterricht. So fand das Lernen der Jüngsten meist im »cheder«, einem Zimmer in der Wohnung des Lehrers statt, wo dessen Frau den Kindern Geschichten erzählte, und alle gemeinsam über diese diskutierten – eine gar nicht hoch genug einzuschätzende frühe Schulung der Diskussionsfähigkeit der Kinder und eine Begegnung auf Augenhöhe, die unser Schulsystem bis heute beharrlich verweigert[2]. Natürlich ging es dabei mitunter sehr lebhaft zu – Stichwort »Judenschul«.

Völlig ungewohnt für Außenstehende ist das scheinbare Chaos beim gemeinsamen lauten Beten in der Synagoge. Es wird nicht wie im christlichen Gottesdienst chorisch, also »gleichgeschaltet« gebetet, vielmehr spricht jede(r)  das Gebet in individuellem Tempo, in seiner eigenen Diktion. Auch das gemeinsame Lesen in der Klasse findet zumeist in dieser Form statt. Dies stärkt die Individualität. Dennoch gelingt es dem Lehrer, seinen Schülern »individuell« zuzuhören.

Laufend wird heute nach der flächendeckenden »täglichen Turnstunde« in Österreichs Schulen gerufen. In der traditionellen jüdischen Schule ist sie verwirklicht. Die Kinder dürfen und sollen in den meist ausgiebigen Pausen[3] nach Herzenslust herumtollen und ihren natürlichen Bewegungsdrang abreagieren – natürlich gibt dies eine Lärmkulisse, die unserem meist militärisch-disziplinierten Pausenusus diametral entgegengesetzt ist![4]

6. Hochbegabte und schwächere Schüler sitzen nebeneinander – und lernen von einander!

Ja – diese Sitzordnung ist »System«! Der Hochbegabte profitiert vom Schwächeren, wenn er diesem den Lernstoff erklären darf und diesen dadurch für sich selber vertieft. So sitzen der Sohn des reichsten Kaufmannes des »Shtetls«[5] und der des »Luftmenschen«[6] oder des »Schnorrers«[7] nebeneinander. Oft ist der Letztere der Hochbegabte, der Kaufmannssohn dagegen begabungsmäßig weniger privilegiert.

Dies sei allen jenen Gegnern der Gemeinsamen Schule in das Stammbuch graviert, die befürchten, dass schwächere Schüler das Fortkommen des eigenen Nachwuchses behindern könnten![8] Das Gegenteil ist der Fall, so die Lehrpersonen diese Form des Lehrens und Lernens beherrschen. Was bedauerlicherweise viel zu selten der Fall ist!

Was diese »Lernordnung« für den sozialen Ausgleich im allerbesten Sinn bedeutet, muss nicht näher ausgeführt werden. Die Unterrichtswissenschaft hat nachgewiesen, dass Kinder von Kindern weit effizienter lernen als vom Lehrer. In der frühen jüdischen Schule verbringen die Jüngsten viel Freizeit und lange Pausen gemeinsam – und lernen voneinander.

7. Tausend Jahre unbekannte österreichische Schulgeschichte

Warum sind diese uralten, doch hochaktuellen und am Boden des heutigen Österreich seit nahezu 1.000 Jahren praktizierten schulischen Spezifika weitgehend unbekannt?

Juden missionieren grundsätzlich nicht – nicht mit ihrer Religion, und nicht mit ihrem Bildungssystem, das eng mit dieser zusammenhängt. Die Mehrheitsbevölkerung begegnet(e) den Juden mit Misstrauen und Ablehnung – zu geheimnisvoll ist ihre Schrift, zu »verdächtig« sind ihre internationalen Kontakte, zu rätselhaft ihre signifikant niedrige Sterblichkeit in Pestzeiten – die sich durch rituelle Hygiene[9] und die zu jeder Zeit hochaktuellen Lebens- und Speisegesetze erklärt.

8. Epilog

Der Nachkomme eines NS-Täters plante die Errichtung einer gemeinnützigen Stiftung, die die Alphabetisierung bedürftiger jüdischer Kinder in den USA ermöglichen sollte. Doch man bat um Umwidmung der Finanzmittel: »Analphabetismus ist so ziemlich das einzige Problem, das wir Juden NICHT haben!«

Dem gegenüber Österreich 2019: derzeit beherrschen rund 40 % der 15jährigen das Lesen, Schreiben und Rechnen nicht, Tendenz steigend! Maturanten weisen schwere Defizite in den Grundrechnungsarten (!) auf! In immer höherem Maße misslingt Unterricht!

Wird es nicht endlich Zeit, uns für die Bildungssysteme anderer Kulturkreise zu interessieren, zumal einer der bedeutendsten, der jüdische, in Österreich seit rund 1.000 Jahren heimisch ist?

[1] Die eng mit dem Mittelhochdeutschen verwandte Umgangssprache der Juden vorwiegend Osteuropas. Jiddisch enthält hebräische und slawische Lehnwörter und wurde meist in der hebräischen Quadratschrift oder in einer der hebräischen »Kurzschriften« notiert.

[2] Österreichs Schule hat militärische Wurzeln. Die ersten Lehrergenerationen waren pensionierte Unteroffiziere der kaiserlichen Armee.

[3] Die bei uns üblichen kurzen Pausen verhindern die Reflexion der Inhalte der zuvor stattgefundenen Unterrichtsstunde und beeinträchtigen so die nachhaltige Aneignung.

[4] Es ist ein hartnäckiges Vorurteil, dass Juden unsportlich seien. In der Zwischenkriegszeit war der Wiener Jüdische Fußballklub HAKOACH (»Die Kraft«) einmal sogar österreichischer Fußballmeister. Juden reüssierten in so gut wie allen Sportarten, die sie ausübten – nicht nur im Schachspiel.

[5] Der traditionelle Siedlungsraum der Juden in Osteuropa bis 1940. Unter »Sthetl« verstand man sowohl Orte mit ausschließlich oder überwiegend jüdischer Bevölkerung als auch primär von Juden bewohnte Orts- und Stadtteile mit räumlich konzentrierter Infrastruktur – Wohnhäuser, Synagoge, Schule, Handwerksbetriebe, Kleinhändler, seltener wohlhabende Großhändler, Sozial- und Kultureinrichtungen.

[6] Ein Jude, der in größter Armut, also »von Luft« lebt.

[7] Schnorrer, von »Schnattern« – rasch sprechen. Viele Juden waren zu arm, um sich Zeitungen leisten zu können. Der Schnorrer übermittelte Neuigkeiten mündlich und wurde dafür sehr bescheiden entlohnt. Er übte eine sehr bedeutende Funktion aus. Das jüdische Pressewesen war oft hoch entwickelt. Auch in kleineren Städten gab es mitunter mehrere jüdische bzw. jiddische Tages- oder Wochenzeitungen. 

[8] Dieser Faktor blockiert die österreichische Schulentwicklung seit Jahren.

[9] Die »Mikwe« – dies ist ein Tauchbad, das mittels durchfließendem Grundwasser gespeist wird – wurde bei Neuansiedlungen zu allererst errichtet – noch vor der Synagoge.

Literaturverzeichnis

 

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Über den Autor / die Autorin

Ernst Smole

Prof. Ernst Smole ist Leiter des NIKOLAUS HARNONCOURT FORUMS WIEN. Er hat Musik in Graz, Lugano und Weimar studiert (Dirigieren, Cello, Musikpädagogik) und war Berater der Unterrichts- und Kunstminister Sinowatz, Moritz und Zilk. In der auslaufenden Legislaturperiode wurde Prof. Smole mehrfach als unabhängiger Referent in Ausschüsse des Parlaments berufen (Bildungsfinanzierung, Schulautonomie, Inklusion, Politische Bildung). Seit den 1990ern befasst er sich intensiv mit Bildungssystemen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise, insbesondere mit dem jüdischen.
Aktuell koordiniert Prof. Smole die Arbeit eines 50köpfigen multidisziplinären Teams am BILDUNGSPLAN/ UNTERRICHTS:SOZIAL : ARBEITS & STRUKTUR:PLAN FÜR ÖSTERREICH 2015 - 2030.

Von Ernst Smole