Deutschlands dauererigierter Zeigefinger nervt. Nicht nur in Bezug auf Katar mäandert das Land zwischen Gratismut und Maulheldentum, und dies nicht erst seit der Weltmeisterschaft.
Ja, die Menschrechtssituation in Katar ist miserabel, Homosexualität ist strafbar und um die Frauenrechte ist es schlecht bestellt. Das weiß man nicht erst seit dem Anpfiff der laut FIFA-Präsident Gianni Infantino »besten WM aller Zeiten«. Für ihn ist sie das wohl, hat er doch Anfang des Jahres ein Haus in Doha gemietet und zwei seiner Töchter dort eingeschult. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Google-Suche nach »FIFA corruption« weist jedenfalls 15,8 Millionen Treffer aus.
Wenn man die Kritik an einem Austragungsort ernst meint, hat man als Verband genau drei Möglichkeiten: Austreten, boykottieren oder mitmachen. Ausgetreten ist aus der FIFA noch niemand. Mannschaften wie Österreich und Italien haben die WM bereits in der Qualifikation auf subtile Weise boykottiert. Der Rest macht mit.
Auftritt Deutschland
Eigentlich ist es seit dem letzten Gruppenspiel ja ein Abtritt und kein Auftritt. Aber das ist keine Fußballkolumne, mir geht es um was anderes: Wenn man das gleiche macht wie alle anderen, ist man nicht besser als alle anderen, auch wenn man sich besser wähnt. Und so war die deutsche Übung im »virtue signaling« von vornherein dazu verurteilt, den Moralweltmeister der Lächerlichkeit preiszugeben.
»Der FC Bayern beleuchtet seine Allianz Arena anlässlich des ›Christopher Street Day‹ auch in diesem Sommer wieder in Regenbogen-Farben… der Deutsche Meister [setzt] wie bereits in den vergangenen Jahren ein weltweit sichtbares Zeichen für Toleranz sowie gegen Homophobie und Diskriminierung jeder Art.«
Auf den zitierten Regenbogen folgen noch Vielfalt, bunte Fähnchen und Gendersternchen – der FC Bayern hat alles richtig gemacht auf seiner Website. Was man dort nicht liest: Wenn es nicht gerade von einer bunten »One Love«-Schleife verdeckt ist, prangt auf dem Oberarm des deutschen Nationaltorhüters und Teamkapitäns im Dress von Bayern München das Logo von Qatar Airways, der staatlichen Airline eben jenes Landes, das Christopher Street Days eher skeptisch gegenübersteht und heuer die WM ausrichtet. Katar lässt sich sein Sponsoring kolportierte 20 Millionen Euro im Jahr kosten, damit lässt sich nicht nur Neuers 18-Millionen Gehalt bezahlen, es bleibt sogar noch was übrig.
Gratismut und Maulheldentum
Haltung zeigt der deutsche Fußball, wo er keinen Preis dafür bezahlt, in München oder bei Spielen gegen Oman oder Ungarn. Der kürzlich verstorbene Hans Magnus Enzensberger hat für dieses Verhalten einen Begriff geprägt:
»Als Gratismut bezeichnet man eine Haltung, mit der Aussagen gemacht oder Handlungen begangen werden, die keinerlei Risiken, Gefahren oder negative Konsequenzen mit sich bringen, sprich nichts ›kosten‹, demnach ›gratis‹ sind. … Freilich könnte man statt Gratismut schlicht von Feigheit sprechen, doch wohnt dem Neologismus (gewollter) Sarkasmus inne, da sich mit Gratismut eine offen zur Schau gestellte, moralische Selbstüberhöhung verbindet, deren Grundlosigkeit sowie Anmaßung entweder nicht begriffen oder bewusst ignoriert wird.«
Wenn man eine mit geringfügigen negativen Konsequenzen bedrohte Handlung großspurig ankündigt und beim leisesten Hauch von Gegenwind einknickt, wird der Gratismut zum Maulheldentum. Und so war das Selbstportrait der deutschen Mannschaft mit den zugehaltenen Mündern ungewollt gut getroffen: hätten sie doch bloß den Mund gehalten.
Schaulauf der deutschen Moral
Die Possen setzten sich fort. Da war Innenministerin Nancy Faeser auf der Tribüne zu sehen, gestylt als wäre sie eine Hartz-4-Empfängerin aus Castrop-Rauxel, dafür mit »One-Love« Schleife am nackten Oberarm; was sie bei den Gastgebern damit zu bewirken meinte, bleibt ihr Geheimnis. Da sind die Öffentlich-Rechtlichen, die tagtäglich Berichte und Talkshows ausstrahlen, in denen die – tatsächlich – katastrophale Menschenrechtssituation in Katar angeprangert wird; unerwähnt bleiben freilich die rd. 214 Millionen Euro, die ARD und ZDF an Katar für die Übertragungsrechte bezahlt haben. Da sagt Energieminister Robert Habeck bei Markus Lanz, er hätte die Schleife getragen, und freut sich ein paar Tage später über einen 15 Jahre laufenden Liefervertrag über katarisches Flüssiggas; vielleicht hat er sich ausbedungen, dass die Tanks in Regenbogenfarben gestrichen sind.
Den Vogel schoss freilich Alena Buyx ab. In einem Podcast erzählte sie: »Meine Söhne werden sich ausgewählte WM-Spiele anschauen. Und wir haben entschieden, sie machen dann immer für jedes geguckte Spiel eine Spende. Für welche Menschenrechtsorganisation bestimmen sie.« Es ist immerhin die Vorsitzende des deutschen Ethikrats, die diesen Ablasshandel für eine zeitgemäße Erziehungsmethode hält.
Verlässlich mündet deutsche Moral in einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit und protestantischem Spießertum, in der nicht Effektivität und Effizienz des eigenen Handelns zählen, sondern dessen Wirkung auf die moralische Selbstbefindlichkeit.
Nur vor dieser Folie funktioniert die Privatisierung des Boykottbegriffs: Nicht-Teilnehmen ist ein Boykott, Nicht-Übertragen ist ein Boykott – Nicht-Zuschauen ist kein Boykott. Zumal jeder deutsche Haushalt diese WM mit seiner »Demokratieabgabe« für ARD und ZDF mitfinanziert.
Moral ist nicht gratis
Auffallend ist, dass in der ganzen Debatte über Menschenrechte in Katar so gut wie nie der Elefant im Raum genannt wird: Katar ist ein islamisches Land, das die Muslimbruderschaft und islamistische Terrororganisationen fördert. Die Rechtsprechung erfolgt nach den Regeln der Scharia. Die Rolle der Frau, der Umgang mit Homosexuellen und vieles andere gründet sich auf religiös begründete Traditionen, die mit finanzkräftiger Hilfe Katars auch in Europa verbreitet werden. Wer über Katar und Menschrechte spricht, muss auch über den Islam sprechen.
In keiner der unzähligen Diskussionen und Beiträge habe ich eine schlüssige Erklärung gehört, warum das Milliardenbusiness Fußball anderen moralischen Kriterien unterliegen sollte als jedes andere Milliardenbusiness. Katar ist mit rd. 25 Milliarden Euro in Deutschland investiert. Ein Investment dieser Größenordnung rechnet sich nicht nur finanziell, sondern auch politisch. Und es geht nicht nur um Katar.
Die allgemeine Menschenrechtssituation ist in Chinas Überwachungsdiktatur nicht besser, größeren Rechten der LGBTQ-Community stehen die Unterdrückung der Tibeter, der Uiguren und der Opposition gegenüber. Im Vorjahr wurden zwischen der EU und China Waren im Wert von 696 Mrd. Euro gehandelt. China ist auch der wichtigste Handelspartner Deutschlands, und Unabhängigkeit von Energieimporten hat für die deutsche Politik keine Priorität. In absehbarer Zukunft wird sich daran also wenig ändern.
Würde sich die europäische Wirtschaft von China abnabeln, wäre der Trennungsschmerz noch sehr viel größer als jener, den der Abschied vom russischen Gas ausgelöst hat. Am meisten leiden würde Deutschland. Wir verkehren eben nicht nur mit Freunden, und dass Sportler oder Künstler anderen moralischen Maßstäben unterliegen sollten als Wirtschaftstreibende, lässt sich nicht begründen.
Man sollte autoritären Regimen keine Bühne für ihre Selbstdarstellung bieten. Das gilt für die FIFA-WM in Russland 2018 ebenso wie für die Winterspiele 2022 in Peking oder die WM in Katar. Man vergibt keine Großereignisse an Diktaturen. Wenn die Vergabe nicht zu verhindern ist, kann man immer noch entscheiden, ob man mitspielt. Kann man machen, aber dann muss man aufs moralische Posieren verzichten. Alles andere ist Augenauswischerei.
[mailerlite_form form_id=1]Zuerst erschienen im Pragmaticus.
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