Selektion an der Rampe in Auschwitz II-Birkenau
Über den Zweck des Gedenkens
Am Morgen des 27. Jänner 1945 erreichten die ersten Rotarmisten der 60. Armee unter Generaloberst Kurotschkindas Lager Auschwitz III-Monowitz. Am Nachmittag befreite die Rote Armee dann das Stammlager Auschwitz und das Lager Birkenau. Die meisten SS-Wachen hatten sich bereits abgesetzt, dennoch mussten bei den Kämpfen noch zwei russische Soldaten ihr Leben lassen.
In der Nacht davor hatte die SS das letzte Krematorium in Auschwitz-Birkenau gesprengt, nachdem sie bereits am 18. Jänner mit der Evakuierung des Lagers begonnen hatte. 58.000 Gefangene trieben die SS-Truppen in diesen Tagen in Richtung Westen, die meisten von ihnen haben diese »Todesmärsche« nicht überlebt. Zurück blieben 7.600 Überlebende und 650 Leichen, 843.000 Herrenanzüge, 837.000 Damenmäntel und -kleider, 44.000 Paar Schuhe, 14.000 Teppiche und 7,7 Tonnen menschliches Haar.
Errichtet wurde Auschwitz II-Birkenau, das größte der nationalsozialistischen Vernichtungslager, im Oktober 1941. Das Stammlager Auschwitz I war als Konzentrations- und Arbeitslager im Jahr davor in Betrieb gegangen, das KZ für Zwangsarbeiter Auschwitz III–Monowitz folgte 1942. Ungefähr 900.000 Deportierte wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Birkenau ohne Registrierung direkt von der Rampe ins Gas getrieben, 400.207 Häftlinge wurden registriert. 223.000 haben das Lager lebend verlassen, die meisten von ihnen wurden in andere Lager verlegt und kamen dort oder bei den Todesmärschen nach der Evakuierung ums Leben. Rund 1.500 Häftlinge wurden entlassen, 500 konnten fliehen und 7.600 wurden befreit.
Dem Standardwerk des polnischen Historikers Franciszek Piper »Die Zahl der Opfer von Auschwitz« zufolge, wurden von 1940 bis 1945 im Komplex des KZ Auschwitz insgesamt 1,1 Millionen Menschen ermordet, darunter 960.000 Juden, 74.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma und 15.000 sowjetische Kriegsgefangene.
Heute gilt Auschwitz als Synonym für den Holocaust. Doch seinen Höhepunkt erreichte der nationalsozialistische Vernichtungswahn in den Mordfabriken der »Aktion Reinhardt«.
Gaskammern mit Gleisanschluss
Nachdem Hermann Göring den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich mit der Gesamtorganisation der »Endlösung der Judenfrage« beauftragt hatte, trafen sich unter dessen Vorsitz am 20. Jänner 1942 in der »Wannsee Konferenz« 15 hochrangige Vertreter der nationalsozialistischen Regierung und der SS, um den bereits begonnenen Holocaust im Detail zu organisieren. Mit der systematischen Vernichtung der europäischen Juden sollte im »Generalgouvernement« – die von den Deutschen besetzten Gebiete Polens und der Ukraine – begonnen werden.
1942 wurden zu diesem Zweck drei neue Vernichtungslager errichtet. Belzec ging im März in Betrieb, Sobibor im Mai und Treblinka im Juli. In diesen Lagern gab es fast keine Selektionen, denn nur Wenige blieben nach ihrer Ankunft noch ein paar Wochen am Leben, um den neu Eintreffenden die Wertsachen abzunehmen, den Toten die Goldzähne auszubrechen und die Massengräber zu füllen. Gemordet wurde mit deutscher Effizienz, pro Lager brauchte man nur ein paar SS-Männer und ein einige Dutzend angeheuerte Ukrainer, die sogenannten Trawniki. Das waren keine Konzentrationslager im herkömmlichen Sinn, Belzec, Sobibor und Treblinka waren Gaskammern mit Gleisanschluss.
Keine Registrierungen, keine tätowierten Nummern am Arm, keine Baracken mit tausenden Kojen – nur Raub und Vernichtung. Die Deportierten wurden in die als »Badehäuser« getarnten Gaskammern getrieben. Man schloss die Türen, warf draußen einen Motor an und leitete die Abgase in die Kammer. Die Prozedur dauerte zwanzig Minuten, die Schreie der Opfer erloschen meistens schon nach fünfzehn.
Parallel zum Morden begann die SS, ihre Spuren zu verwischen. Nicht nur aus Angst vor dem Unverständnis künftiger Generationen, sondern vor allem, weil aus den Massengräbern die Gase und Flüssigkeiten der verwesenden Leichen an die Oberfläche drangen und drohten, das Grundwasser zu verseuchen.
Die Leichen wurden exhumiert, auf einem Rost aus Eisenbahnschienen im Wechsel mit Brennholz gestapelt, mit Benzin und Brandbeschleuniger übergossen und verbrannt. Was übrig blieb, wurde in Mühlen zermahlen und in den umliegenden Wäldern verstreut. Für das Beseitigen der toten Juden brauchte man mehr Personal als für die Ermordung der lebenden. Nachdem die Häftlinge das trostlose Werk in den Arbeitskommandos vollendet hatten, wurden die unliebsamen Zeugen umgebracht.
Im Sommer 1943 neigte sich die Aktion Reinhardt ihrem Ende zu. Die wenigen Überlebenden wurden in andere Lager verfrachtet und dort ermordet. Die Vernichtungslager wurden geschliffen, die Wiesen begrünt und Bauernhöfe angelegt. In den 21 Monaten der »Aktion Reinhardt« wurden mindestens 1,7 Millionen Juden und 50.000 Roma und Sinti ermordet, fast doppelt so viele wie in Auschwitz-Birkenau. Kaum jemand konnte von diesem Verbrechen erzählen – von ungefähr 1,8 Millionen Menschen hatten weniger als 150 überlebt. Mit ein Grund, warum die Vernichtung der polnischen Juden in vergleichsweise Vergessenheit geriet.
Die Singularität des Holocaust
Die Einzigartigkeit des Holocaust bestand nicht im Entschluss der Nazis, die in Deutschland lebenden Juden umzubringen und darüber hinaus die im benachbarten Polen. Auch andere Genozide, wie etwa der durch die Kambodschaner und der durch die Türken, versuchten bestimmte Gebiete von sogenannten Unerwünschten zu befreien, indem man sie tötete.
»Die völlige Singularität des Holocaust bestand vielmehr im Plan der Nazis, alle Juden weltweit in Todeslagern zu ›versammeln‹und der ›jüdischen Rasse‹ für immer ein Ende zu bereiten. Das war fast erfolgreich. Die Nazis sperrten Zehntausende von Juden ein (darunter Säuglinge, Frauen und ältere Menschen), die aus den entlegensten Ecken der Welt kamen – von der Insel Rhodos, aus Thessaloniki und aus anderen unbedeutenden Orten –, um sie in Auschwitz und anderen Todeslagern zu vergasen. … Niemals zuvor oder danach in der Weltgeschichte hat ein tyrannisches Regime darauf hingearbeitet, alle Mitglieder einer bestimmten rassischen, religiösen, ethnischen oder kulturellen Gruppe zu ermorden, unabhängig davon, wo diese leben – bis heute nicht.«
Nach dieser Definition von Alan M. Dershowitz wird der Holocaust ein singuläres Ereignis bleiben. Niemand in Europa wird Juden oder irgendeine andere Gruppe aus der ganzen Welt zusammentreiben und ermorden. Was die Frage aufwirft, was Gedenkveranstaltungen über die ehrende Erinnerung an die Ermordeten hinaus eigentlich bezwecken sollen. Wenn die Geschichte der Shoah eine Botschaft hat, dann diese: man muss dem Antisemitismus überall auf der Welt mit aller Entschlossenheit entgegentreten, um ihn an der mörderischen Vollendung zu hindern.
Deshalb ist es substanzlos, um nicht zu sagen heuchlerisch, der toten Juden zu gedenken, wenn man sich nicht an die Seite der lebenden stellt. Mehr als siebzig Jahre nach dem Holocaust hofiert die europäische Politik den gegenwärtig gefährlichsten Feind von sechs Millionen Juden. Wer mit dem Regime im Iran paktiert, möge am Holocaust-Gedenktag schweigen.
Zuerst erschienen auf mena-watch
Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER!