Von der Wirklichkeit umzingelt

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Deutschland ist auf dem besten Weg, wieder der kranke Mann Europas zu werden. Die Wunden, an denen das Land leidet, hat es sich selbst zugefügt, weitgehend ohne Fremdeinwirkung.

„Wir sind umzingelt von Wirklichkeit.“ Es ist ein Satz für die Geschichtsbücher, den der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck in Anne Wills letzter Talkshow von sich gab. Weil er, wenn auch vielleicht nicht ganz absichtlich, auf den Punkt bringt, woran nicht nur links-grüne Träumereien, sondern der gesamte deutsche Staat seit geraumer Zeit kranken. 

Mit dem Verb „umzingelt“ stempelt Habeck die Wirklichkeit zum Feind. Demzufolge umgibt uns die reale, erlebte Welt nicht bloß, sie umzingelt uns wie Indianer in alten Western eine Wagenburg oder ein Soldatenfort. Habecks Bild ist durchaus schlüssig, denn die Luftschlösser seiner Regierung werden von der Realität gerade genauso unerbittlich dahingerafft wie General Custers Soldaten am Little Bighorn von den Sioux-, Cheyenne- und Arapaho-Kriegern. Wille und Vorstellung scheitern an der Begegnung mit der Wirklichkeit. 

Eine Kugel Eis

Nicht mehr als eine Kugel Eis werde die Energiewende einen durchschnittlichen Haushalt kosten, versprach der damalige grüne Umweltminister Jürgen Trittin im Jahr 2004 den Deutschen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder den Atomausstieg bereits beschlossen. Und wer aus der Anwendung aussteigt, steigt unweigerlich auch aus Forschung und Entwicklung aus. 

Neunzehn Jahre und hunderte Milliarden Euro später gehört Deutschland zu den Ländern mit den höchsten Strompreisen der Welt und energieintensive Industrien verlegen Produktionsstätten ins Ausland oder planen, dies zu tun. Und die deutsche Stromversorgung ist bis auf weiteres von Kohle- und importiertem Atomstrom abhängig. Dabei ist es kaum zwei Jahrzehnte her, dass Deutschland Weltmarkt- und Technologieführer in der Kernenergie war und die deutschen Kernkraftwerke zu den sichersten der Welt zählten. 

Die Energiewende war mit Deutschlands Vorreiterrolle beim Klimaschutz begründet worden. Heute ist es eher unwahrscheinlich, dass die „dümmste Energiepolitik der Welt“ (© Wall Street Journal) einen Nachahmer findet. Im Gegenteil. Auf der UN-Klimakonferenz COP28 in Dubai forderten soeben 22 Staaten – darunter die USA, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Finnland, Schweden, Polen und Ungarn – die Leistung von Kernkraftwerken im Vergleich zu 2020 bis zum Jahr 2050 zu verdreifachen.

Bis zum deutschen Atomausstieg hatte meines Wissens noch kein einziges Land der Welt eine Technologie freiwillig beerdigt, in der sie weltweit führend war. Doch Deutschland sollte sich als Wiederholungstäter entpuppen. Auch beim Bann des Dieselmotors stand ausgerechnet jenes Land an vorderster Front, das einen beträchtlichen Teil seines Wohlstands den weltbesten Dieselantrieben verdankte. Heute muss sich sein industrielles Herz elektrisch angetriebenen iPhones auf Rädern stellen – dafür ist Deutschland nicht viel besser gewappnet als seinerzeit Nokia. Stand September war heuer das Model Y von Tesla das meistverkaufte Auto der Welt und China hat sich bei Elektroautos als ernst zu nehmender globaler Mitbewerber etabliert. 

Eine Zeitenwende nach der anderen

Auch abseits der missglückten Energiewende steht die deutsche Politik vor einem Trümmerfeld geplatzter Träume. Die intensiven Handelsbeziehungen mit Russland haben Putin nicht zu einem „lupenreinen Demokraten“ gewandelt. Die Illusion vom „Wandel durch Handel“ ist schon mit der Annexion der Krim geplatzt, es wollte bloß kaum jemand wahrhaben. Das Massaker in Butscha hat die deutsche (und damit auch die europäische) Russlandpolitik schließlich endgültig beerdigt. 

Selbst nach dem Wegfall der russischen Gaslieferungen kann sich Deutschland nicht dazu durchringen, die eigenen Schiefergasvorkommen zu erschließen. Dabei könnte das Land schon ab 2026 jährlich ein Mehrfaches der mit Katar vereinbarten LNG-Liefermengen inländisch fördern – kostengünstiger, unter strengeren Umweltauflagen und mit erheblich weniger CO2- und Methan-Emissionen.

Genauso krachend gescheitert wie die Energiewende ist die deutsche Migrationspolitik. Sie erinnern sich sicher noch an den berühmten Satz der damaligen Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Parteitag der Grünen 2015: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf.“ Mit ihrer Freude dürfte sie heuer wohl ziemlich allein dastehen. Abgesehen von der im Vergleich zur Aufnahmegesellschaft weit überdurchschnittlichen Kriminalitätsrate unter Migranten: Von den 2015 Angekommenen kann noch immer nicht einmal die Hälfte ihren Unterhalt ohne staatliche Unterstützung bestreiten – trotz Fachkräftemangel in praktisch allen Branchen. Die Kommunen haben zu wenig Wohnungen, zu wenig Kitas, zu wenig Schulen, zu wenig Lehrer. „Wir schaffen das“ ist der vielleicht berühmteste Satz Angela Merkels. Doch sie schaffen es nicht. 

Ein Pendel, das zurückschlägt, bleibt nicht in der Mitte stehen.

Allein heuer haben wieder über 300.000 Menschen in Deutschland um Asyl angesucht (rd. eine Million Ukrainer nicht mitgerechnet), die meisten aus Syrien und der Türkei, über 80 Prozent Männer. Das entspricht der Bevölkerung einer Stadt wie Graz, obwohl die Infrastruktur schon davor an ihre Grenzen gelangt war. Man muss kein Hellseher sein, um zu behaupten, dass nur eine Minderheit die Kriterien für die Erteilung von Asyl erfüllen dürfte – und dass dies nicht das Geringste daran ändert, dass sich die meisten von ihnen auf Dauer niederlassen und ihre Familien im Lauf der nächsten Jahre nachholen werden. 

Dessen ungeachtet entscheidet sich die SPD dafür, das migrationspolitische Wolkenkuckucksheim weiter auszubauen. Die Partei verweigert ihrem Kanzler Olaf Scholz die Gefolgschaft bei einer härteren Gangart gegenüber illegaler Migration. „Für eine sachorientierte Debatte wäre es wichtig, Probleme der Integration und Einwanderung beim Namen zu nennen. Doch wer das tut, läuft auch in der SPD Gefahr, sich den Vorwurf einer ‚Diskursverschiebung nach rechts‘ einzuhandeln“, berichtet die Welt vom Parteitag der deutschen Sozialdemokraten. 

In aktuellen Umfragen liegt die AfD bei 22 Prozent, Tendenz steigend; in fünf Bundesländern spricht sich rund ein Drittel für sie aus. Auch ihre holzschnittartigen Parolen würden an der ersten Begegnung mit der Wirklichkeit zerschellen. Aber wenn die etablierten Parteien nicht endlich zu einer rationalen Politik finden, die den Interessen der eigenen Bevölkerung Priorität einräumt, wird ihr Aufstieg andauern und früher oder später wird sie in Regierungsverantwortung kommen oder die Bevölkerung wird ihren Unmut über die Politik auf andere Weise ausdrücken. Gemütlich wäre beides nicht. Ein Pendel, das zurückschlägt, bleibt nicht in der Mitte stehen. 

 Zuerst erschienen im Pragmaticus.


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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.