Von Antisemiten und Kanarienvögeln

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Der Song Contest war kein Einzelfall. Weltweit werden Juden zur Zielscheibe kaum gezügelter Aggression. Das ist ein Warnsignal für die Demokratie. 

Die israelische Sängerin, die nur unter massivem Polizeischutz am Song Contest auftreten kann und bei jedem Auftritt vom Publikum niedergeschrien wird. Die jüdischen Professoren und Studenten, denen von israelfeindlichen Demonstranten der Zutritt zu ihren Universitäten verweigert wird. Der Jude, der auf offener Straße krankenhausreif geprügelt wird. 

Seit Wochen bricht der offen zur Schau getragene Judenhass in Europa und den USA alle Dämme. Und um nichts anderes handelt es sich: Bei keinem anderen Land käme man auf die absurde Idee, Sängerinnen auszubuhen, Studenten vom Campus zu jagen oder Kommilitonen zu verprügeln, um gegen dessen Politik zu demonstrieren. Man geht nicht auf einzelne Bürger eines Landes los, weil einem dessen Regierung nicht behagt. 

Darum blieb der Vertreter Aserbaidschans, lkin Dovlatov, beim Song Contest auch zurecht unbehelligt, obwohl sein Land vor wenigen Monaten mehr als hunderttausend Armenier aus dem Land vertrieben hat. Diese ethnische Säuberung (Armenier haben seit Jahrhunderten in Bergkarabach gelebt, jetzt gibt es dort keinen einzigen mehr) interessierte weder die Teilnehmer noch das Publikum, wahrscheinlich haben die wenigsten überhaupt davon gewusst. 

Der weltweit grassierende Antisemitismus ist offensichtlich. Nur „antisemitisch“ mag niemand genannt werden.

Der Wettbewerb war ein bizarres Schauspiel von Menschen, die für sich selbst ein Übermaß an Toleranz einfordern und gleichzeitig durch ihr eigenes Verhalten, sei es aus Hass oder Dummheit, das Motto „United By Music“ pervertierten. Dass die Buh-Rufe bei den Eurovision-Übertragungen rausgefiltert und von künstlichem Applaus übertönt wurden, war ein passendes Sinnbild für die Scheinheiligkeit der gesamten Inszenierung. 

Warum Antizionismus antisemitisch ist

Der weltweit grassierende Antisemitismus ist offensichtlich. Nur „antisemitisch“ mag niemand genannt werden. Man wird doch noch Israel kritisieren / mit den Palästinensern solidarisch sein dürfen, heißt es dann in allen möglichen Variationen. Als ob man das je nicht gedurft hätte. Ich kenne diesen Sound seit meiner Jugend. „Das wird man wohl noch sagen dürfen“, sagt man, wenn man versucht, das Inakzeptable in akzeptable Worte zu kleiden.

Die Frage, ob Antizionismus antisemitisch ist, hat die Geschichte meiner Ansicht nach beantwortet. Israel wurde als „nationale Heimstätte des jüdischen Volkes“ gegründet und ist seither Zufluchtsort für alle Juden, unter anderem für jene mehr als 900.000, die seit der Staatsgründung aus den arabischen Nachbarländern vertrieben worden sind. Wenn – nach der Shoah – die Eliminierung des jüdischen Staates kein antisemitischer Akt sein soll, macht das Wort keinen Sinn mehr.  

Deswegen sind Henryk M. Broders Ausführungen vor dem Deutschen Bundestag aus dem Jahr 2008 heute aktueller denn je: „Ein Vorurteil zielt auf das Verhalten eines Menschen, ein Ressentiment auf dessen Existenz. Der Antisemitismus gehört in die Kategorie der Ressentiments. Der Antisemit nimmt dem Juden nicht übel, wie er ist und was er tut, sondern dass er existiert. … Der Antizionist hat die gleiche Einstellung zu Israel wie der Antisemit zum Juden. Er stört sich nicht daran, was Israel macht oder unterlässt, sondern daran, dass es Israel gibt.“ 

Wenn die letzten Stunden einer freien Gesellschaft schlagen, werden die Juden als erste ins Visier genommen.

Österreich hat zusammen mit vielen anderen Staaten die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance angenommen, die den israelbezogenen Antisemitismus ausdrücklich einschließt. Weshalb die Definition von linken Akademikern und Kulturschaffenden seit Jahren heftig bekämpft wird, die sich durch sie in ihrem Recht auf Israelkritik beschränkt fühlen, darunter auch etliche Juden. Mir fällt dazu immer ein Satz des Satirikers Alexander Roda Roda ein: „Aus dem Antisemitismus könnte schon was werden, wenn sich nur die Juden seiner annehmen würden.“ 

Canary in a coal mine 

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein brachten Bergleute Kanarienvögel als Frühwarnsignal für Kohlenmonoxid in die Stollen. Die Vögel reagieren darauf empfindlicher als Menschen. Sie hören auf zu singen und fallen von der Stange. 

Ein Blick in die eigene Geschichte zeigt: Wenn die letzten Stunden einer freien Gesellschaft schlagen, werden die Juden als erste ins Visier genommen. Sie sind die Kanarienvögel der Demokratie. Man kann den Zeitgeist also gar nicht ernst genug nehmen. „Der Ungeist des weltweiten Antisemitismus ist aus der Flasche, und ich wüsste nicht, wie man ihn da wieder hineinbekommt“, sorgt sich der Werbefachmann Harry Bergmann in einem berührenden Kommentar im FALTER

Das weiß ich auch nicht. Aber vielleicht sollten wir einfach damit aufhören, uns in Debatten über die Definition von Antisemitismus zu verstricken. Reden wir nicht über Antisemitismus, sondern über Judenhass, wenn wir auf ihn treffen. Reden wir darüber, dass Sippenhaft in einer Demokratie nicht tolerierbar ist. Und reden wir darüber, welchen Unterschied es für das Schicksal von mehr als sieben Millionen Juden in Israel machen soll, ob man sich auf Kant oder Arafat beruft, wenn man das Ende des jüdischen Staates fordert. Dem Antisemitismus kann man nicht beikommen, den Antisemiten vielleicht schon. 

 Zuerst erschienen im Pragmaticus.


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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.