VERZICHT IST EINE DEUTSCHE TUGEND

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Foto: Susie Knoll / SPD Saar

Kaum eine Tugend ist deutscher als jene des Verzichts. Und damit ist noch nicht einmal der Verzicht auf Humor, Höflichkeit und gutes Essen gemeint

Kaum eine Tugend ist deutscher als jene des Verzichts. Und damit ist noch nicht einmal der Verzicht auf Humor, Höflichkeit und gutes Essen gemeint. Der Schlüssel des deutschen Erfolgs liegt in der protestantischen Verzichtsethik, die jegliche Verschwendung verabscheut, und die Antipode der Verschwendung ist die Effizienz. Effizienz ist der Verzicht auf alles Überflüssige.

Gut, in den letzten Jahren hat man’s vielleicht ein wenig übertrieben mit dem Verzicht. Dem einen oder anderen mag inzwischen dämmern, dass man allzu leichtfertig auf eine leistbare Energieversorgung und sichere Grenzen verzichtet hat, und nicht jeder ist vom sich abzeichnenden Verzicht auf ganze Schlüsselindustrien überzeugt. Konservative mögen den Verzicht der CDU auf bürgerliche Werte beklagen, und alte Linke mögen über den Verzicht der SPD auf ihre früheren Kernwähler, die aufstrebenden Arbeiter und Angestellten, sinnieren. Macht aber nichts. Solange die ehemaligen Volksparteien auf ihr (Wahl-) Volk verzichten und trotzdem regieren können, bleibt ihr Handlungsbedarf überschaubar. 

Die Regierung des Verzichts

Niemand verkörpert die protestantisch-deutsche Tugend des Verzichts besser als Angela Merkel. Sie verzichtet nicht nur auf jegliche Eleganz und geschliffene Rhetorik – im Vergleich wirkte ihr Vorgänger wie ein prächtiger Fürst der Renaissance –, ihre gesamte Ägide ist von Verzicht geprägt. Unter Merkel bejubelt das Land nicht nur den Verzicht auf Atomkraft und Gentechnik, sondern gewöhnt sich auch an den Verzicht auf Autos, Diesel, Infrastruktur und Digitalisierung.

Man verzichtet auf die frühere Bindung zu den Vereinigten Staaten und die Beliebtheit bei den europäischen Nachbarn, und im gleichen Sog gefangen, verzichtet der Kontinent auf ein störrisches Inselvolk, das immerhin die größte Atommacht, die zweitgrößte Volkswirtschaft, das Land mit der drittgrößten Bevölkerung und der drittgrößte Nettozahler der Europäischen Union war. Angela Merkel ist die Kanzlerin des Verzichts. 

Doch Deutschland muss um seine Verzichtskultur auch nach dem Ende ihrer Ära nicht bangen. An allen Ecken und Enden gedeihen grüne und rote Verzichtsprediger wie Pilze im warmen Herbstregen. Im neuen Deutschland ist der neue Fortschritt der Verzicht auf den Fortschritt. Dass die Apologeten der Post-Wachstums Ökonomie kaum wo populärer sind als in Deutschland, könnte man zwar mit dem Hinweis quittieren, dass mit voller Hose eben gut stinken ist, man kann aber auch darauf verzichten. 

Unverzichtbar ist eigentlich nur die Süddeutsche Zeitung. »Maas verzichtet in Israel auf Drohungen«, titelt sie und fragt sich besorgt, »welche Druckmittel Maas überhaupt zur Verfügung stehen«.

Damit erfasst sie wie kaum eine andere Zeitung den zivilisatorischen Fortschritt des Landes in wenigen Worten: Gerade einmal 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz verzichtet der deutsche Außenminister darauf, Juden in ihrem eigenen Land zu drohen! An Tagen wie diesen macht sich eben bezahlt, dass er wegen Auschwitz in die Politik gegangen ist. Alles wird gut. 


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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.