UP IN THE AIR

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Photo: Aleem Yousaf via Visual Hunt, CC BY-NC-SA 2.0

Von der Zivilgesellschaft zur YouTube Society

Ein Video sorgt derzeit für Aufregung. In Chicago wurde ein Passagier von mehreren Sicherheitsbeamten aus einem Flugzeug gezerrt, nachdem er sich geweigert hatte, es zu verlassen. Der Flug war überbucht, und da einige Angestellte der Fluglinie einen anderen Flughafen erreichen mussten, um dort einen Flug zu übernehmen, wurden vier Passagiere gebeten, gegen eine Vergütung von 800 USD den nächsten Flieger zu nehmen. Drei waren bereit, einer weigerte sich. Nach einem längeren Schreiduell mit Vertretern der Airline rief der Pilot den Sicherheitsdienst zur Hilfe, die ihn aus dem Flugzeug zerrten. Er kam später zurück, mit Blutpuren im Gesicht.

Die Empörungen überschlugen sich. Abertausende schrieben ihre Kommentare, riefen auf, United zu boykottieren oder gaben Ratschläge wie der Passagier zu einigen Millionen Entschädigung kommen könnte.

Ich versuchte es mit einem Experiment und begann auf Facebook meine Zweifel zu deponieren. Warum ist es möglich, vor 200 Passagieren, einen Mann mit blutiger Nase aus dem Flugzeug zu schleppen, und keiner versucht es zu verhindern? Warum hat der Passagier nicht nachgegeben und sich aufgeführt wie ein tobender 5-Jähriger? Warum hat kein Passagier dem Arzt, der behauptete, er müsse einen Patienten besuchen, seinen Platz angeboten? Warum zücken alle nur ihre Mobiltelefone und regen sich Stunden später auf Social Media auf, statt direkt in den Konflikt einzugreifen?

Zusehen, Dokumentieren und Kommentieren ohne sich einzumischen scheint Alltag geworden zu sein. In Ohio wurde 2015 zum ersten Mal ein Mann verhaftet, der nach einem Verkehrsunfall das Opfer filmte statt zu helfen, und später das Video auf Facebook veröffentlichte. In Oregon wurden mehrere Augenzeugen eines Unfalls verhaftet, die eine Frau und deren Tochter in einem brennenden Auto filmten, ohne einzugreifen. Im Süden von Chicago kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen mit Polizei und Rettungsdiensten, die durch Notruf verständigt wurden. Erschossene liegen auf den Straßen, umringt von Gaffern mit ihren Handys, und Ärzte können sie nicht erreichen.

Aus der ‚nur nicht einmischen – Gesellschaft’, die angeblich nichts gehört und nichts gesehen hat, wurde eine Gesellschaft, die ‚alles gesehen und alles gehört’ und dazu eine Meinung hat – und zwar jeder die gleiche. Ein einzelnes Video kann innerhalb von Stunden von Millionen Menschen angeklickt werden, die das Geschehen kommentieren ohne irgendwelche Hintergründe zu kennen. Es interessiert sie auch nicht. Es geht um den aggressiven provokanten Kommentar dazu, um die Anzahl der ‚likes’, die man dafür bekommt. Der Zweifel, das Hinterfragen, die eigene Recherche ist nicht mehr gefragt, obwohl es durch das Internet nahezu ideale Möglichkeiten gäbe.

Fragen und Fakten

Hier ein paar Informationen und Gedanken zu dem aktuellen Fall:

• Warum werden Flüge überbucht? Weil statistisch berechenbar soundso viele nicht erscheinen. Praktisch jeder Flug wird überbucht, und etwa 50.000 Passagiere pro Jahr in den USA sind Opfer dieser Überbuchungen, obwohl sie ein gültiges Ticket haben.

• Wer wird ausgewählt, das Flugzeug zu verlassen? Alleinreisende mit Handgepäck, nie Familien oder Kinder.

• Ist es rechtlich möglich, jemanden mit einem gültigen Ticket den Platz zu verweigern? Ja, steht im ‚Kleingedruckten’, das man beim Ticketkauf unterschrieben hat. Ist übrigens keine Bestimmung der Fluglinie sondern ‚Commercial Aviation Rule’.

• Haben Crew Member das Recht, jemanden aus dem Flugzeug zu weisen? Ja, steht auch im ‚Kleingedruckten’, wer immer eine Anweisung des Flugpersonals ignoriert oder sich weigert, kann gezwungen werden, das Flugzeug zu verlassen. Zuerst versucht es die Crew, dann kommt das Sicherheitspersonal.

• Warum werden Airline-Mitarbeiter bevorzugt? Werden sie nicht. Nach ‚Commercial Aviation Rule’ müssen sie allerdings mitgenommen werden, wenn sie für einen weiteren Flug in eine andere Stadt gebracht werden. Fliegen sie privat, oder nach der Arbeit nach Hause, müssen sie warten, bis ein Platz frei ist.

• Warum waren United-Mitarbeiter so brutal in diesem Fall? Waren sie nicht. Airline-Mitarbeiter dürfen keinen Passagier berühren. Die Crew hat sich in diesem Fall genau nach Vorschrift verhalten.

• Soll man United jetzt boykottieren? Sinnlos, weil jede Fluglinie nach den gleichen Prinzipien arbeitet. Wer sich weigert, ein Flugzeug zu verlassen, wird vom Sicherheitsdienst ‚betreut’, nicht von der Crew.

• Einfachste Lösung für dieses Problem? Warum verkauft man nicht, wie bei einem Theaterstück oder einem Kino, einen Platz, den man voll zahlt, auch wenn man nicht erscheint, dann gäbe es keine Überbuchungen.

Einen Tag nach dem Ereignis wurden weitere Fakten veröffentlicht, die allerdings niemanden mehr interessierten, da jeder schon eine Meinung hatte, und Meinungen sind nicht dazu da, dass man sie ändert oder an die Realität anpasst:

• Der betroffene Passagier hatte mehrere Therapien für ‚Anger Management’ und unbegründete ‚Wutausbrüche’ hinter sich.

• Dem Arzt, der angeblich dringend einen Patienten aufsuchen musste, wurde seine Arbeitsgenehmigung als Mediziner abgenommen, da er einem jungen Patienten illegale Rezepte über opiumhaltige Schmerzmittel für ‚Gay-Sex’ angeboten hatte. Seine eigene Ehefrau, ebenfalls Ärztin, zeigte ihn damals an.

• Laut Protokoll anderer Passagiere wurde er von den Sicherheitsbeamten vorerst höflich gebeten, seinen Platz zu verlassen. Er antwortete mit nein, und weiter: Dann müssen sie mich eben aus dem Flugzeug tragen!

Und das Beste zum Schluss: Es war nicht einmal ein United Flug und auch keine United Crew, sondern eine kleine regionale Fluglinie, Republic Airline, die übrigens bankrott ist und nur einige wenige regionale Flüge für United übernimmt.

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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4 comments

  • Also ich kann Ihren Fragen und Fakten nichts abgewinnen. Zunächst einmal: beim „gewöhnlichen“ überbuchen, was tatsächlich immer wieder, wenn auch nicht häufig, vorkommt, wird das Problem schon VOR dem Boarding geklärt. Das Bodenpersonal kann da ohne große Dramatik einzelnen Passagieren das Boarding verweigern, und die ganze Eskalation wäre nie passiert. Tatsächlich hat jedoch United viel zu spät, nämlich nach dem Boarding, bei einem NICHT überbuchten Flug Crew-Mitglieder für einen völlig anderen Flug positionieren (sprich überstellen) müssen. Dass United keine andere Lösung parat hatte, als bereits geboardete Passagiere vom Bord zu jagen, ist zumindest sehr schlechtes Management. Die Situation dann auch noch so eskalieren zu lassen ist aber schlichtweg dumm und unprofessionell. United hätte ab dem Zeitpunkt, wo ihnen klar war, dass die Crew positioniert werden muss, innerhalb von zwei Stunden wahrscheinlich problemlos einen corporate jet verfügbar haben können. Bei der betreffenden Strecke wären das sicher unter 10.000 USD Gesamtkosten gewesen – versus 4.000 USD die man fürs Loswerden der Passagiere aufweden wollte. Dass man da so einen desaströsen Imageschaden in Kauf nimmt ist einfach idiotisch. Ich wäre übrigens in so einem Fall auch nicht freiwillig ausgestiegen, obwohl ich weder Arzt bin noch Aggresssionsprobleme habe.
    Und zum Thema mitfilmen und nicht helfen: wer schon einmal Sicherheitskräfte in den USA erlebt hat, wird sich dreimal überlegen, ob er sich einmischt, denn ruckzuck ist man selbst auch gleich verhaftet. Mitfilmen war also vollkommen richtig, damit wenigstens Beweise da sind. Ich bin noch bei jedem Unfall stehen geblieben, um Erste Hilfe zu leisten, aber in der Situation hätte ich ganz genau so gehandelt: nicht einmischen aber mitfilmen und die Information verbreiten, damit so etwas nie wieder passiert.

  • Danke für das Kompliment! Auf Facebook liken und den Newsletter abonnieren, dann versäumen Sie keinen Text. Frohe Ostern!

  • Das alles konnte jeder, der sich nicht von seinen pawlowschen Sabber-Vorurteilen leiten lässt, selbst bei oberflächlichstem Verfolgen dieses Themas im Internet wissen, was keine Kritik an diesem sehr verdienstvollen Artikel sein soll. Das Internet schafft nicht diese Mentalität, sie entlarvt sie. Mir macht das Angst.

    Habe „Schlaglichter“ eben erst entdeckt. Danke für diese gute Seite!