NUN SPRÜHEN SIE WIEDER

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Woran Insekten wirklich sterben

Aktivisten und Parteien, die die konventionelle Landwirtschaft gern abschaffen möchten, sprühen derzeit wieder vor Untergangslust. Nach Waldsterben und Amphibiensterben haben sie das Insektensterben entdeckt. Es ist wie immer viertel nach zwölf.

Die Welt der Insekten ist rätselhaft und voller Wunder. Es gibt Falter, die wie die Zugvögel ganze Kontinente durchqueren und dabei die Alpen überfliegen und es gibt Arten, die ihren wenige Quadratmeter großen Lebensraum nie verlassen. Bienen haben einen Flugradius von ein paar Kilometern, Hummeln und Stechmücken fliegen kaum mehr als ein paar hundert Meter weit – letztere können allerdings durch Wind über weite Strecken verweht werden. Andere können gar nicht fliegen, bei manchen fliegen nur die Männchen und auch die nur wenige Tage im Jahr.

Typisch sind die sogenannten Populationswellen. Mal gibt es ein massenhaftes Auftreten von Marienkäfern, die dann Hauswände und Strände rot-schwarz einfärben, dann wieder Jahre, in denen man kaum einen zu Gesicht bekommt. Dafür gibt viele Gründe: Lebenszyklen, Nahrungsangebot, die Zahl von Fressfeinden, Krankheitserregern oder Parasiten, die ebenfalls starken Schwankungen unterworfen ist, das Wetter und viele andere Einflüsse. Manche Faktoren betreffen nur eine oder wenige Arten, andere können viele Arten betreffen.

Lebenszyklen des Maikäfers

Maikäfer etwa, die als Schädlinge besonders gut studiert wurden, leben drei bis fünf Jahre als Larven im Boden. Diese Zyklen sind regional synchronisiert. Bei einem vierjährlichen Zyklus folgt auf drei Jahre, in denen praktisch kein Maikäfer zu sehen ist, ein Jahr mit vielen Käfern. Diesem Zyklus ist ein 30- bis 45-jähriger Rhythmus überlagert, dessen Ursachen nicht genau bekannt sind. Vermutlich breiten sich Krankheiten oder Parasiten in guten Jahren ungehindert aus und übrig bleiben resistente Käfer, die sich dann wieder ungestört vermehren können. So entstehen längere Zyklen, an deren Ende eine regelrechte Maikäferplage steht. Die gab es zuletzt vor sieben Jahren in Südhessen.

Die Biopolitik der Insekten

Die Populationsschwankungen von Insekten sind nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sie können hoch politisch sein. In den 1920er und 30er Jahren machte man sich Sorgen um die Verschlechterung der Erbqualität des Menschen. Man erkannte, dass zahlreiche menschliche Erkrankungen vererbt wurden oder zumindest genetisch beeinflusst waren und fürchtete, dass diese Erkrankungen sich möglicherweise innerhalb weniger Generationen in der menschlichen Bevölkerung ausbreiten könnten, denn schließlich sorgten doch die zivilisatorischen Leistungen der Menschheit (Medizin, Fürsorge usw.) dafür, dass auch Menschen mit genetisch ungünstigen Anlagen am Leben blieben und sich fortpflanzen konnten.

Die Erbforscher wandten sich der Taufliege Drosophila zu, einem Insekt, das damals bereits das Haustier der Genetik war. Am Beispiel einer Taufliegenpopulation in einem Obstgarten im Norden Berlins studierte man, wie sich nachteilige Mutationen in der freien Wildbahn verhielten. Die Ergebnisse: Die Mutationen unterlagen keineswegs samt und sonders der natürlichen Auslese, sondern sie setzten sich manchmal binnen kurzer Zeit sogar durch, so dass die Populationen rasch zusammenbrachen. Die Studie hatten den Fehler, eine isolierte Population zu betrachten, die nicht im Austausch mit anderen Taufliegenbiotopen war. Was die Forscher also betrachteten, war Inzucht. Das hielt jedoch weder sie noch die Verfechter von Eugenik und Rassenhygiene davon ab, die Ergebnisse als alarmierend zu betrachten. Die Insektendaten waren in Deutschland Wasser auf die Mühlen der Befürworter von Zwangssterilisationen und des Mordes an Menschen, die als „erbkrank“ und deren Leben als „lebensunwert“ betrachtet wurden.

Auch heute werden Erkenntnisse über Insektenpopulationen wieder auf der Folie einer politisch brisanten Debatte interpretiert – es geht um die „Agrarwende“ und den Einsatz von Pestiziden, mit denen Landwirte heute Pflanzenkrankheiten, Schädlinge und unerwünschte Pflanzen bekämpfen.

Eine Gruppe von Entomologen hat vor kurzem Ergebnisse publiziert, die nahelegen, dass die Zahl der Insekten in Deutschland zurückgeht. Die Studie beruht auf der Auswertung von Fallen, die fliegende Insekten fangen. Gemessen wurde die Biomasse von flugfähigen Insekten – und nur von flugfähigen Insekten. Die Ursache für den konstatierten Rückgang kennen die Forscher nicht.

Es gibt mittlerweile zahlreiche Zweifel am Design, der Datenauswahl, der Statistik und damit an der Aussagekraft der Studie (etwa hier, hier und hier), doch darum soll es an dieser Stelle nicht gehen. Stattdessen geht es um die reflexhafte Schuldzuweisung an die moderne Landwirtschaft, die in praktisch allen großen Medien Deutschlands zu lesen war. Schuld am Rückgang der Insekten, der lustvoll als Tatsache akzeptiert wird, soll die moderne Landwirtschaft sein: „Kunst“dünger, die Bewirtschaftung großer Flächen und Pestizide, allen voran das derzeit von grünen Parteien und Lobbygruppen heftig bekämpfte Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat. Die Mühe, andere Faktoren zu betrachten, macht sich niemand mehr. Die Studie ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die eine „Agrarwende“ fordern, an deren Ende Pestizide und mineralischer Dünger komplett verboten sind. Die Sache erinnert fatal an das Amphibiensterben. 2005 galt den Medien Glyphosat als ausgemachter Schuldiger – heute ist klar, dass es ein Pilz ist, der das Immunsystem der Tiere manipuliert.

1. Lichtverschmutzung

Vielleicht werden auch die Insekten durch ein Virus dahingerafft, vielleicht beeinträchtigen Abgase, bestimmte Chemikalien, die Rückstände von Medikamenten im Abwasser tatsächlich die Fortpflanzungsfähigkeit oder die Lebenszyklen von Insekten. Aber warum nach exotischen Faktoren suchen, wenn drei wichtige Ursachen schon lange bekannt sind, ohne dass etwas geschieht?

Ein wesentlicher Faktor, dessen Auswirkung auf das Leben von Insekten sogar quantifizierbar ist, ist die nächtliche Beleuchtung unserer Straßen, Städte und Dörfer. Licht ist der ärgste Feind fliegender Insekten. Die meisten Insekten sind nachtaktiv, um Vögeln zu entgehen, und sie orientieren sich am Mond, um nach oben zu kommen, wo die Luftverhältnisse es ihnen erleichtern, größere Strecken zurückzulegen. Den Mond können sie nicht erreichen, wohl aber Lampen, sodass sie dagegen fliegen, sie umkreisen und nicht wieder davon loskommen. Die Tiere werden dann entweder zur leichten Beute von Fledermäusen, Spinnen und anderen Tieren oder sie sterben an Erschöpfung. Eine einzelne Straßenlaterne in Bachnähe lockt in nur einer Nacht so viele Köcherfliegen an, wie in der gleichen Zeit am Bachufer über eine Länge von 200 Metern schlüpfen.

Eine Studie der Universität Mainz ergab im Jahr 2000, dass etwa ein Drittel der nächtlich anfliegenden Insekten an den Lampen bzw. im Umfeld der Lampen zu Tode kommen oder geschädigt werden. Für die Bundesrepublik mit einem geschätzten Park von (damals) 6,8 Mio. Straßenleuchten (d.h. eine Leuchte auf je zwölf Einwohner) kamen die Autoren auf die Zahl von 91,8 Mrd. Insekten, die binnen dreier Monate durch nächtliche Beleuchtung getötet werden.

2003 fasste eine Studie im Auftrag der Umweltschutzabteilung der Stadt Wien (MA 22 Umweltschutz) zusammen, dass in den Sommermonaten etwa 150 Insekten pro Straßenlampe und Nacht getötet werden.

Bei diesen Rechnungen sind beleuchtete Werbeflächen, Schaufenster und Leuchten auf Privatgrund noch nicht eingerechnet. Licht beeinflusst aber auch das Verhalten und die Paarungsfähigkeit von Insekten. Untersuchungen haben gezeigt, dass ganze Lebensgemeinschaften durch Straßenlaternen dauerhaft beeinträchtigt werden – nicht nur nachts.

Abhilfe könnten Lampen schaffen, die die Spektren ausblenden, auf die Insekten am stärksten reagieren. Die Umstellung auf eher gelblich leuchtende Natriumdampflampen würde das nächtliche Gemetzel zwar nicht vollständig beenden, aber doch erheblich reduzieren. Stattdessen modernisieren wir unsere Straßenbeleuchtung, um Energie zu sparen, mit Lampen, die Insekten noch zuverlässiger anlocken.

2. Winterwetter

Ein anderer wichtiger Einflussfaktor ist der Winter. Strenger Frost ist dabei weniger schlimm als mildes und feuchtes Schmuddelwetter. Dann sind die Tiere bzw. ihre Eier, Larven und Puppen anfällig für Pilz- und Bakterienbefall. Auch wenn nach wärmeren Phasen nochmal eine Frostperiode kommt, endet das für bereits erwachte Tiere meist im Desaster. Am schlimmsten sind ein feuchter Herbst, an den sich ein milder Winter und ein wiederum nasses Frühjahr anschließt. Dann verschimmeln die Insekten regelrecht in ihren Winterquartieren – wenn sie nicht schon vorher ihre Energievorräte verbraucht haben, weil der Stoffwechsel bei frostfreien Perioden auf kleiner Stufe weiterläuft. Von diesen Wintern hatten wir in den letzten Jahrzehnten überdurchschnittlich viele.

3. Lebensraum

Ein dritter Faktor, der den Insekten das Leben schwer macht, ist das Verschwinden von Lebensräumen, die Insekten gerne besiedeln: vegetationsarme Böden, die im Sommer schnell heiß werden, Überschwemmungsgebiete, Abbruchkanten, Schutthalden, Pfützen und Dreck wie Misthaufen, Kuhfladen, Aas, Müll und Dung. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass Insekten Blumenwiesen, Blühstreifen und saftiges Grün lieben. Das sind Lebensräume für wenige Spezialisten. Die meisten Insekten sind Extremisten – ihre Larven lieben es karg und öde oder fett und stinkend, knochentrocken oder staunass, nicht aber über einen Zierrasen gesäte Bienenweide oder Insektenhotels, die Städter gern für das Nonplusultra des Insektenschutzes halten. Viele sind auf Futterpflanzen spezialisiert, die auf nährstoffreichen Blumenwiesen oder Blühstreifen gar nicht wachsen. Schmetterlinge mögen blühende Pflanzen in Parks und Ziergärten lieben, ihre Raupen dagegen brauchen ganz etwas anderes.

Barbara Hendricks, noch-Umweltministerin, brachte das insektenfeindliche Denken des deutschen Naturschutzes 2015 unkenntnisreich auf den Punkt, als der Bundestag 31.000 Hektar „an die Natur“ zurückgab. „Viele Flächen, die einst Sperrgebiet waren, brauchen wir nicht mehr für militärische Zwecke“, sagte sie 2015 in einer Pressemitteilung. „Wir haben das Glück, dass wir diese Flächen heute der Natur zurückgeben können. Wir wollen dieses Erbe der Natur für künftige Generationen bewahren.“ Das sei eine „historische Chance“. Die war es in der Tat – die historisch einmalige Chance, den Artenreichtum der früher regelmäßig durchwühlten, karstigen Truppenübungsplätze durch die „Rückkehr der Natur“ kaputtzumachen.

Zuviel grün schadet nur

Deutschlands Artenreichtum geht nämlich zurück auf eine Zeit, in der das Land kaum bewaldet war. Bäume wurden als Brennmaterial, für die Erzgewinnung und zum Bau von Straßen, Wegen, Hütten und Befestigungen benötigt. Wald, der übrig gelassen wurde, diente als Viehweide und hatte kaum Unterholz. Dem Vieh urbares Land als Weide zu überlassen, wäre niemandem in den Sinn gekommen – man brauchte alles verfügbare Land, um Nahrung anzubauen. Der Boden war nährstoffarm und es gab keine Pestizide – daher war die Ernte schlecht und fiel regelmäßig Schädlingen, Parasiten und dem allgegenwärtigen Unkraut zum Opfer. Die wiederkehrenden Hungersnöte beweisen das ebenso wie zeitgenössische Stiche und Gemälde.

Die Wälder waren licht, vorherrschend waren Offenlandschaften, geprägt durch Abbruchkanten, Felsen und Sandflächen. Es gab ausgedehnte Sümpfe und Moore. Auf solchen Flächen siedelten zahllose Insekten, die an diese Umwelt angepasst und auf sie angewiesen waren. Solche Biotope gibt es heute nur noch dort, wo böse Industrie am Werk war: in Steinbrüchen, Tongruben, Baggerlöchern, auf Truppenübungsplätzen, Industriebrachen und Abraumhalden – alles keine Orte, die das grüne Herz deutscher Waldromantiker höher schlagen lassen, die lieber Bestseller wie Peter Wohllebens Baumbücher („Hörst Du, wie die Bäume sprechen?“) lesen.

Das interessiert grüne Populisten alles nicht. Für sie ist klar: Die Landwirtschaft ist schuld, mit ihren Pestiziden und vor allem mit Glyphosat. Es gibt zwar weder Daten, die das untermauern (ganz im Gegenteil), noch einen plausiblen Wirkmechanismus, aber solche Petitessen interessieren auch keinen Impfgegner, der nicht vorhandenes Quecksilber in Impfstoffen für die Ursache von Autismus hält. Wenn es Grünen und organisierten Umweltschützern wirklich ernst mit dem Schicksal der Tiere wäre, hätten sie z.B. längst für die flächendeckende Einführung von Natriumdampflampen gesorgt. Es geht – wie im Fall des Amphibiensterbens – nicht um echte Ursachenforschung, sondern um Schuldzuweisung, die nichts anderes ist als Lobbyarbeit für die Biolandwirtschaft. Denn (s. Amphibien) sobald sich zweifelsfrei herausstellt, dass es eben nicht Glyphosat ist, das Tiere sterben lässt, wird das Thema fallen gelassen. Das Sterben geht zwar weiter, aber es ist nicht kampagnenfähig.

Es gibt nur einen Weg

Wer die Vielfalt der Insekten wirklich erhalten will, muss zweierlei fordern. Erstens muss weiter geforscht werden, um die Frage zu klären, ob Insekten tatsächlich verschwinden und wenn ja, welche und warum. Zweitens: Vernunft statt Populismus. Weder ein Verbot aller Pestizide noch Umstellung auf 100 Prozent Bio noch Blühstreifen und Lerchenfenster werden die von unseren Vorfahren in Zeiten von Hunger und Not geschaffenen wüsten Landschaften zurückbringen, auf denen die Artenvielfalt der Pflanzen und Insekten in Deutschland beruht. Es gibt nur einen Weg:

Gebt Landwirten und Landespflegern Flächen und Geld und lasst sie diese Biotope mit Hilfe ihrer Maschinen und ihrer Expertise wieder auferstehen – getrennt von intensiv genutzten Flächen. Überlasst die Truppenübungsplätze nicht der Natur, sondern den SUV-Fahrern und, liebe Gemeindeverwaltungen, macht einfach mal nichts: Für die Artenvielfalt ist es besser, wenn ihr eure Extrembiotope – Deiche, Verkehrsinseln und die Randstreifen der Wirtschaftswege – nicht mäht und wenn ihr Brachflächen einfach so lasst, statt sie in Parks zu verwandeln. Und auf der anderen Seite fördert bitte eine Landwirtschaft, die auf geringer Fläche hoch produktiv ist – mit Hightech und allen verfügbaren Technologien. Nur so kann Raum für Insekten und andere Tier geschaffen werden. Wenn ihr dann noch die Beleuchtung eurer Gemeinden insektenfreundlich gestaltet, gibt es auch wieder Insektenplagen.

Zuerst erschienen bei den SALONKOLUMNISTEN.

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Über den Autor / die Autorin

Ludger Weß

Schreibt seit den 1980er Jahren über Wissenschaft, vorwiegend Gen- und Biotechnologie. Davor forschte er als Molekularbiologe an der Universität Bremen. 2006 gehörte er zu den Gründern von akampion, das innovative Unternehmen bei ihrer Kommunikation berät. 2017 erschienen seine Wissenschaftsthriller ‚OLIGO‘ und ‚VIRONYMUS‘ bei Piper Fahrenheit. Ludger Weß kommentiert hier privat.

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