MINDESTSICHERUNG

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Photo: SPÖ Presse und Kommunikation, CC BY-SA 2.0

Die neuen Wähler: ohnmächtig und abhängig

Man kann es drehen, wie man will, Rechenbeispiele präsentieren und immer wieder versuchen nachzuweisen, dass weder Regierung noch Opposition die korrekten Zahlen präsentieren. Eines bleibt einem in Erinnerung, ob man es will oder nicht, ob das eine oder andere Projekt verteidigt wird: Die Unterschiede zwischen arbeiten und nicht-arbeiten sind zu gering und eben nicht groß genug, um die Betroffenen zu motivieren, für ein besseres Leben eine Ausbildung anzustreben und Arbeit zu suchen. Es rechnet sich nicht und macht keinen Sinn. Damit zerstören die Verantwortlichen ein Gesellschaftssystem, das auf Leistung und einem Beitrag zur Allgemeinheit aufgebaut ist und lassen eine Generation nach der anderen heranwachsen, die mit dem Bewusstsein aufwächst, dass eine Versorgung durch den Staat ohne entsprechende Gegenleistung ein Recht sei, das ihnen zusteht.

Die Diskussion über Sinn und Zweck der Mindestsicherung und anderer Unterstützungen wird derzeit nur auf einer finanziellen Ebene geführt – und hat dabei nur zum Teil mit Geld zu tun. Dennoch, selbst wenn man bei den reinen Zahlen bleibt, ist Österreich extrem großzügig im Vergleich zu anderen EU-Ländern und liegt im Spitzenfeld der finanziellen Unterstützungen – ohne entsprechende Gegenleistungen einzufordern. Bei gleichzeitig niedrigem Lohnniveau und steil ansteigenden Steuern kommt es zu den absurden Vergleichen, dass eine Familie, in der einer der Eltern einer einfachen Arbeit nachgeht und der andere Partner sich um die Kinder kümmert, kaum mehr verdient, als ein Ehepaar mit zwei oder mehr Kindern, das nur von Unterstützungen lebt.

Verteidigt wird das von der VP/FP-Koalition kritisierte System von der Opposition, vor allem von der regierenden SPÖ in Wien, die anscheinend vergessen hat, dass sie einst eine Arbeiterpartei war. Nun macht sie sich stark für jene, die nicht arbeiten, und bezeichnet Vergleiche der Familieneinkommen von Arbeitenden mit Nicht-Arbeitenden als »Hetze« und »Kampf gegen die Armen«.

Die Sozialdemokratie, aus den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen des vorigen Jahrhunderts hervorgegangen, entwickelte auf der Grundlage des »Kommunistischen Manifests« von Engels und Marx eine Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, die das Leben der Werktätigen entscheidend veränderte. Von der Reduzierung der Arbeitszeit, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Sicherung von Mindesturlaub, Kranken- und Pensionsversicherung und einem Netzwerk von Vereinen, die sich auf Sport, Kultur und Freizeit konzentrierten, schuf sie erfolgreich eine Gegenwelt zu jener der »Wohlhabenden« in der kapitalistischen Gesellschaft. Mit dieser politischen Strategie sicherte sie sich die Unterstützung der Werktätigen bei Wahlen und entwickelte sich zu einer einflussreichen politischen Bewegung. Wie sehr sich doch die Zeiten geändert haben.

Immer noch singen die Sozialdemokraten bei den Feierlichkeiten am 1. Mai das Lied »Wir sind die Arbeiter von Wien«, schwenken rote Fahnen und tragen rote Nelken im Knopfloch; die gehobene Faust als Begrüßung für die Genossen und Genossinnen, wenn sie an der Tribüne vorbeimarschieren. Die Solidarität mit dem werktätigen Volk, der Kampf für die Rechte der Arbeiter und die Befreiung von der »Knechtschaft« des Kapitalismus waren einst die Ziele der Sozialisten und Sozialdemokraten – und sind heute nur noch leere, einfallslose Sprechblasen. 

Für die nächste Mai-Feier sollte die Parteiführung ihr Lied umdichten, denn die Partei kämpft nicht mehr für die »Arbeiter von Wien«, sondern für jene, denen die arbeitsfreie Zeit mit einem vergleichbaren Stundenlohn abgegolten wird. Die von der Partei immer wieder erwähnten »Armen« – von denen die meisten kaum oder nicht arbeiten – als beschützenswertes Segment in der Gesellschaft entdeckt, sind jetzt nicht mehr von einem Arbeitgeber, sondern von der Verwaltung abhängig.

Ein Sozialsystem, das den Menschen das Interesse, den Druck und die Notwendigkeit abnimmt, für sich selbst und ihre Familien zu sorgen, ist nicht sozial, sondern zwingt sie in eine Un-Selbständigkeit, in der die versorgten Erwachsenen wie Minderjährige behandelt werden. Arbeit ist dann nicht mehr eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft als Mitglied einer »Produktionsgesellschaft«, die herstellt, verdient und Steuern zahlt und damit einen Lebensstandard mitfinanziert, der nicht nur der einzelnen Personen ein Einkommen sichert, sondern auch ein soziales Verhalten gegenüber den Mitmenschen ermöglicht – sondern ein mehr oder weniger sinnloses Tun. Der Einfluss auf die nächste Generation in diesen Familien ist katastrophal mit der Botschaft, dass in Zukunft das geschickte Ausnutzen des sozialen Netzes weitaus attraktiver sein könnte als das Erlernen eines Berufes und die Integration in den Arbeitsprozess. 

Die Sozialdemokratie übernimmt damit indirekt die ehemalige Funktion der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern, doch bezahlt sie ihre Mit-Arbeiter, ohne dass diese mit-arbeiten mit den Geldern, das den Arbeitenden als Steuer abgenommen wird. Aus den Kämpfern für die Rechte der Arbeiter wurde eine Verteiler-Partei, die einen Teil der Arbeitsleistung der Arbeitenden verwaltet und aufteilt wie einst der Kapitalist und Unternehmer. Den »Mehrwert«, den einst der Kapitalist für sich in Anspruch nahm, teilen sich jetzt Arbeitgeber und sozialdemokratische Verwaltung. Der eine nutzt ihn für Investitionen um das Unternehmen zu sichern, der andere sichert damit zukünftige Wahlerfolge.

Isolationsbonus für neue Wähler

Dahinter steckt nämlich ein politisches Kalkül, das nichts mit Versorgung der Armen und Verzweifelten zu tun hat. Nach dem Abwandern der Werktätigen als Unterstützer der sozialdemokratischen Parteien und dem damit verbundenen kontinuierlichen Machtverlust, sind die »Arbeiter-Parteien« verzweifelt auf der Suche nach neuen Wählern. Und da bleibt nicht mehr viel übrig in der Gesellschaft. Also beschlossen linke Parteien in vielen europäischen Ländern, sich auf ein Segment zu konzentrieren, das die meisten anderen Parteien bisher ignorierten: Wahlberechtigte unter Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen und deren Kinder.

Als eine der ersten der europäischen linken Parteien versuchte diese Strategie die Labour-Party in Großbritannien und präsentierte sich nicht nur als »Retter der Armen«, sondern bot als Draufgabe, wie das Schlagobers auf der Sachertorte, auch noch den Antisemitismus für die Zuwanderer aus den islamischen Ländern. Der Erfolg war überzeugend. Bei den letzten Wahlen gewann die Labour-Party vor allem in Gemeinden mit einem besonders hohen Anteil an Einwanderern und Muslimen. 

Das Projekt der SPÖ in Wien scheint diesem Vorbild zu folgen. Irgendwann wird ein beträchtlicher Teil der Flüchtlinge, Asylsuchenden und hier Geborenen stimmberechtigt sein. Und wen werden sie wohl dann wählen? Entsprechend der Logik der SPÖ hoffentlich die Partei, die sich um sie »kümmerte«!

In diesem Sinne ist das Festhalten an der Mindestsicherung eine politische Langzeitstrategie zur Sicherung von Wahlerfolgen. Es geht weder um Armut noch um Hilfe, und schon gar nicht um Mitleid. Es geht um das Überleben der Sozialdemokratie, die eine neue Wählerbasis vorbereiten muss, nachdem sie die Arbeiter verloren hat.

Die ehemalige Arbeiterpartei schröpft ihre ehemalige Klientel, um sich ein neues Stimm-Volk zu sichern. Der Werktätige finanziert mit seinen Steuern zukünftige Wahlerfolge der Sozialdemokraten, die sich mittels Verteilungs-Politik das Wohlwollen eines Teils der Wahlberechtigten sichern. Diese – so hofft die Partei – werden dankbar und treu bleiben, da sie im Gegensatz zur Arbeiterbewegung ihre Rechte nicht gegen erfolgreiche Unternehmer erkämpften, sondern kampflos, aber in völliger Abhängigkeit, versorgt werden. Gewerkschaften konnten mit Streikdrohungen gegen die Arbeitgeber ihre Bedingungen durchsetzen. Die Bezieher von staatlichen Unterstützungen sind hingegen ohnmächtig und hilflos den jeweiligen Regierungen und Gesetzen ausgeliefert, die damit über eine Macht verfügen, die Arbeitgeber nie hatten.

 

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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