LERNEN IN ZEITEN VON CORONA

L

Die Rückkehr der Elternverantwortung?

Corona ist eine Katastrophe und mitnichten eine Chance. Doch eine ›Lernzeit‹ für uns ist Corona allemal – auch in Hinblick auf die Elternverantwortung. Und wie so oft weisen Blicke weit zurück in die Geschichte von Bildung und Erziehung Wege in die Post-Coronazeit. Diese droht ein Desaster unnötigen Ausmaßes zu werden – das Thema Bildung wird aktuell wie kaum jemals zuvor!

Wessen Aufgabe ist ›Schule‹? Die Archäologie hat durch eindrucksvolle Funde nachgewiesen, dass die allerfrühesten Ausprägungen von ›Schule‹ in unserem Sinne im Nahen Osten der Antike – im Zweistromland und am Gebiet des heutigen Ägyptens – mit großer Sicherheit Einrichtungen primär für elternlose Buben gewesen sind. Das traditionelle Judentum etwa sieht die Väter – aus heutiger Sicht wohl die Eltern – als die wichtigsten Lehrer der Kinder. Nicht zufällig hat der zentrale spirituelle Text des Judentums, das Schma Jisrael, den Charakter eines »Lehrauftrages«. Die Rabbiner des Mittelalters maßen den Schulkindern eine herausragende Bedeutung für das Wohl der gesamten Welt zu. Rabbi Jehuda Nesia meinte:

Die Welt hat nur durch den Atem der Schulkinder Bestand!

Auch der Besuch des Cheders, der »frühen Schule« mit drei oder vier Jahren, ist über Jahrtausende Teil der jüdischen Familienkultur gewesen. Mädchen haben in der Regel nicht den Cheder besucht, waren aber zumeist begeisterte ›Mitlerner‹ – wie heute die kleinen Geschwister, die oft mit großem Interesse das schulische Treiben ihrer größeren Geschwister verfolgen und mitlernen. Im jüdischen Kulturkreis hatte die räumliche Beengtheit dieses kompensatorische Mitlernen der Mädchen begünstigt. Daher war der Bildungsstand der Frauen im Judentum in Anbetracht des Nicht-Schulbesuches oft ein sehr hoher. 

Frauen hatten in ihrer Zuständigkeit als Verantwortliche für den Haushalt auch wirtschaftlich-finanzielle Familienagenden wahrzunehmen, während die Väter für den Unterhalt der Familien aufgekommen sind und sich im Kreis der Familie mit heiligen Texten – also mit Lernen – befasst haben. Die Kinder haben ihre Väter von klein auf als ›Lernende‹ wahrgenommen – eine wahrlich wirkmächtige Bildungsinspiration!

Immer wieder stößt man auf die Frage, wie denn die großartigen Leistungen des jüdischen Kulturkreises – Stichwort 40% der Nobelpreisträger bei einem globalen Bevölkerungsanteil von lediglich 00,19% – in den modernen Naturwissenschaften möglich gewesen sind, obwohl sich das Lernen im traditionellen Judentum mit wenigen Ausnahmen bis in das 19. Jahrhundert so gut wie ausschließlich auf religiöse Texte bezogen hat. 

Bedeutend ist auch die gemeinsame Befassung mit den Regelwerken des Talmud. Seine individuelle Auslegung ist eine erstklassige Schule des juristisch-wissenschaftlichen Diskurses. Es soll und darf alles hinterfragt werden, aber man soll nach sehr komplizierten Regeln zu einem – idealerweise, aber nicht zwingend gemeinsamen  Schluss kommen. Diese Diskussionen, an denen auch sehr junge Menschen teilnehmen, sind dialektisch und schärfen das Denken, das Zuhören(!) und das Argumentieren. Das Lernen und die eigenständige Interpretation des Angeeigneten sind im Judentum ähnlich wie im Konfuzianismus und anders als in Katholizismus und im Islam ein religiöses Gebot. 

Die Antwort auf die Frage »ausschließlich religiöses Lernen, dann überragende Leistungen in den modernen Naturwissenschaften« ist denkbar einfach – es wurde »lerntechnisch« seit über zwei Jahrtausenden alles richtig gemacht. Wenn man über eine perfekte Lerntechnik verfügt, dann lernt man dank dieser auch völlig ›fremde‹ Inhalte rasch und nachhaltig. Die vor rund 100 Jahren in Kairo aufgefundenen, um das Jahr 1.000 unserer Zeitrechnung entstandenen Lernbehelfe – etwa vorgefertigte Blätter zum großflächigen, individuellen Ausmalen von Buchstaben – muten teils wie Produkte der aktuellen Lernwissenschaften an.

Wer trägt die Bildungsverantwortung?

Ist Schule einst ganz besonders bzw. auch Familiensache gewesen, so hat sich die Bildungsverantwortung zumindest in der Mehrheitsgesellschaft Österreichs und Deutschlands speziell seit den 1970er Jahren stark zu staatlichen und privaten Institutionen hin verlagert.

»Es ist eine Zumutung, dass ich nach der Arbeit noch die Schulhefte meiner Kinder ansehen soll! Da ist die Schule in der Pflicht!« So tönte es vor einiger Zeit anlässlich einer Debatte des Nationalrates – Beifallskundgebungen, kaum Widerspruch. 

»Die moderne Schule braucht die Eltern nicht, sie wird bald ganztägig und damit zeitgemäß sein, unsere bestens ausgebildeten Lehrer brauchen die Eltern nicht!« Dies war Mainstream des Bildungsvolksbegehrens 2010 – zögerlicher, daher wirkungsloser Widerspruch. 

»Die Elternwünsche an die Bildungspolitik? Gute Noten für die Kinder und keine Belastung des Familienlebens mit Schulproblemen!« So die Antwort von Elternvertretern, als Anfang der 1970er der Unterrichtsminister das Motto ausgegeben hatte: »Für meine Bildungspolitik haben Elternwünsche absoluten Vorrang!«

Neuen Datums ist diese Position: »Ich habe Probleme mit mir, mit den Kollegen, mit der Schulleitung, mit der Behördenbürokratie, manchmal auch mit den Schülern – ich brauche nicht auch noch Ärger mit den Eltern!« Oder »An unserer Schule gilt das Motto Hunde und Eltern haben keinen Zutritt!« Dies beklagt eine Lehrerin, die sich hingebungsvoll und erfolgreich um die Zusammenarbeit mit den Eltern bemüht und damit immer wieder am Schulklima scheitert.

Nein, die Eltern haben nicht aufgehört, sich Gedanken über die Schule zu machen. Vermehrt versuch(t)en sie, sich mit Hilfe von Beratungsbüchern ›schlau‹ zu machen. »Viele Eltern verfügen über drei Meter Beratungsliteratur – Entwicklungsfragen, Sexualkunde, anstrengungsloses Lernen, innerfamiliäre Konfliktumgehung! Der Wert vieler dieser Bücher ist, dass man mit ihnen ein wärmendes Feuerchen anheizen kann!« Meint der renommierte deutsche Schulexperte Josef Kraus.

Der verhängnisvolle Schlachtruf »Schule – sie muss die Stärken stärken und die Schwächen hinwegignorieren« hat via Beratungsliteratur sogar Eingang in die bildungspolitische Debatte gefunden, mit schlimmen Folgen – Stichwort ›Spaßschule‹. In Wahrheit geht es aber darum, den ›Motivationsflow‹, der aus dem erfolgreichen »Stärken der Stärken« entsteht, zur Behebung der Schwächen zu nutzen. Doch dies ist Arbeit – für die Schüler, für die Lehrer und auch für die Eltern!

Freude am gemeinsamen Lernen

Eltern & Corona? Corona ist ausschließlich eine Katastrophe. Wer angesichts von Corona von ›Chancen‹ faselt, beweist, dass er von den Lebenswelten jener Millionen, deren Einkommen von heute auf morgen auf 0,00 Euro gestürzt sind, nicht die mindeste Ahnung hat.

Erkenntnisfähige und reflektierende Menschen ›lernen‹ immer – in positiven Zeiten in Richtung Optimierung, in schwierigen Phasen ist Problembehebung angesagt. In diesem Sinne ist Corona eine ›Lernzeit‹ wie jede andere. 

Zigtausende Eltern entdecken jetzt staunend ihre Fähigkeit, oft sogar ihre Freude daran, ihre Kinder beim ›homelearning‹ zu unterstützen! Wenn dies in der Nach-Coronazeit Eingang in die Schulkultur finden würde, dann wäre dies ein Zeichen dafür, dass Corona als nachhaltig wirksame »Lernzeit« genutzt worden ist! Können alle Eltern ihren Kindern helfen? Ja, wenn auch auf unterschiedliche Weise!

Der wohl einfachste, aber wirkungsvollste Weg der Unterstützung der Schulkinder durch ihre Eltern ist, den Kindern und ihrem ›Schulleben‹ Interesse und echte Zuwendung zu widmen. Das schaffen alle Eltern, wenn sie es denn wollen – unabhängig von ihrem eigenen formalen Bildungshintergrund.

Der Großvater Hausierer, der Sohn Kaufmann, der Enkel Universitätsprofessor, gar Nobelpreisträger. Diesem Lebenslauf begegnet einem mit großer Regelmäßigkeit, wenn man sich mit den Biographien berühmter Persönlichkeiten befasst. Wie das? Im jüdischen Kulturkreis hat jede Generation ein aktives und positives Interesse am Lernen der anderen Generationen. Ein Beispiel gefällig? Ein Bub doziert über Heilige Schriften, die Zuhörer sind an den Ausführungen des jungen Mannes sichtlich interessierte professionelle Bibelwissenschaftler der Väter- und Großvätergeneration. Dieser junge Mann war Jesus. Seine Biographie ist auch eine von gelungener Hochbegabtenförderung – alle interessieren sich für das Lernen der jeweils anderen!

66% der Pflichtschulabgänger können nicht berufsfähig Lesen, Schreiben und Rechnen

Eine Studie der Universität Wien vom April 2020 weist nach, dass Menschen mit geringer Bildung ganz besonders von den derzeitigen Corona-Maßnahmen betroffen sind. Andere Untersuchungen verweisen darauf, dass in der drohenden wirtschaftlichen Rezession wieder diese Bevölkerungsgruppe am stärksten betroffen sein wird.

Wenn man sich angesichts dieser Fakten vergegenwärtigt, dass nach einer Untersuchung der Wiener Wirtschaftskammer derzeit 66% der fünfzehnjährigen Lehrstellenbewerber das Lesen (!), Schreiben (!) und Rechnen (!) nicht berufsfähig beherrschen, dann machen sich Grauen und Verzweiflung breit.

Will jemand allen Ernstes behaupten, dass 66% der Wiener Jugendlichen zu blöd für die Schule sind? Nein – es ist das Problem eines Systems, das mittlerweile völlig aus der Zeit gefallen ist und nicht mehr funktionieren kann. Handeln wir JETZT und nicht erst dann, wenn bei uns mittelamerikanische Verhältnisse herrschen – gepanzerte Limousinen und Hochsicherheitsvillen auf der einen Seite, Armut, Kriminalität, Verzweiflung, Krankheit und Flucht auf der anderen. Blicken wir interessiert zu jenen, die vorzeigen, wie es besser gehen kann!

Literatur:

Gerhard Langer
»Menschen – Bildung. Rabbinisches Lernen & Lehren jenseits von PISA«
Böhlau Verlag, 2012

Paul Elbogen
»Genius im Werden. Die Kindheit und Jugend großer Menschen«
Bertelsmann

Mario Markus
»222 Juden verändern die Welt«
Olms Verlag, Hildesheim 2019

Leo Leitner
»Von der Schule zum Nobelpreis – von Robert Barany über Erwin Schrödinger zu Elfriede Jelinek«
Leykam, Graz 2009


Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER


Über den Autor / die Autorin

Ernst Smole

Prof. Ernst Smole ist Leiter des NIKOLAUS HARNONCOURT FORUMS WIEN. Er hat Musik in Graz, Lugano und Weimar studiert (Dirigieren, Cello, Musikpädagogik) und war Berater der Unterrichts- und Kunstminister Sinowatz, Moritz und Zilk. In der auslaufenden Legislaturperiode wurde Prof. Smole mehrfach als unabhängiger Referent in Ausschüsse des Parlaments berufen (Bildungsfinanzierung, Schulautonomie, Inklusion, Politische Bildung). Seit den 1990ern befasst er sich intensiv mit Bildungssystemen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise, insbesondere mit dem jüdischen.
Aktuell koordiniert Prof. Smole die Arbeit eines 50köpfigen multidisziplinären Teams am BILDUNGSPLAN/ UNTERRICHTS:SOZIAL : ARBEITS & STRUKTUR:PLAN FÜR ÖSTERREICH 2015 - 2030.

Von Ernst Smole