KEIN GANDHI IN GAZA

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Photo: Joe Catron, CC BY-NC 2.0

Kein palästinensischer Gandhi, nirgends

In einer ausführlichen Replik widmet sich Thomas von der Osten-Sacken meiner Analyse über den »Großen Marsch der Rückkehr«, in dem ich die Proteste als monatelang geplanten, militärisch organisierten Angriff auf die israelische Grenze charakterisiert und als Propagandaerfolg der Hamas gewertet habe. Sein mit Fragen gespickter Text dreht sich im Kern um zwei Thesen: 1. Die Proteste sollten ursprünglich rein friedlich ablaufen und seien erst später von der Hamas gekapert worden. 2. Gewaltfreie Proteste nach dem Vorbild von Gandhis Salzmarsch – und als solcher sei auch der Große Marsch der Rückkehr geplant gewesen – würden für Israel eine weit größere Gefahr bergen als alle bewaffneten Konflikte. Beide Thesen verdienen eine nähere Betrachtung.

Von der Hamas gekapert?

Nach ihrem Wahlsieg von 2006 – sie hatte mit rd. 44% der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate erzielt – setzte sich die Hamas im Juni 2007 in einer Reihe von bürgerkriegsähnlichen Gefechten gegen die Fatah und die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde durch. Die islamisch-palästinensische Terrororganisation, die 1987 als Zweig der Muslimbruderschaft gegründet worden war, besteht aus den paramilitärischen Kassam-Brigaden, einem Hilfswerk und einer politischen Partei. Ihr Ziel ist die Vernichtung Israels und die Errichtung eines islamischen Staates, ihre bis heute gültige Gründungscharta beruft sich unter anderem auf die Protokolle der Weisen von Zion. Die jüngste, schleppend verlaufende, Annäherung an die Fatah hat nichts an ihren Zielen geändert, sondern ist nur eine Reaktion auf den steigenden Druck von außen, vor allem aus Ägypten.

Unabhängig von der Zufriedenheit der Bevölkerung: in mehr als zehn Jahren hat die Hamas jeden Lebensbereich in Gaza durchdrungen. Ihre Dreiteilung in eine politische Vertretung, in Hilfswerke und in kämpfende Truppen erlaubt maximale Flexibilität in ihrer Darstellung nach außen und innen, vom Wohltäter über den Diplomaten bis zum Helden des Jihad. Dementsprechend unterschiedlich dürften auch die persönlichen Schwerpunkte ihrer Mitglieder, Sympathisanten und Kollaborateure sein.

Die Planung und Vorbereitung der Proteste erfolgte mit Billigung und unter Beteiligung der Hamas, ob, – wie Osten-Sacken schreibt – mit anfänglicher Zurückhaltung, oder nicht. Zwei Zeugen führt Osten-Sacken auf, um die friedliche Absicht der Proteste zu belegen. Einen Aktivisten namens Ahmed Abu Artima und Hasan al-Kurd, von dem ein Interview mit dem »antizionistischen linken israelischen Magazin +972« angeführt wird: »Wir wollen ein Signal aussenden, dass wir in Frieden leben wollen – mit den Israelis. Wir lehnen das Steinewerfen und das Abfackeln von Reifen ab«, zitiert Osten-Sacken aus dem Interview, und, dass die Botschaft eine friedliche sei, man Gewalt ablehne und sicherstellen werde, dass die Demonstration nicht gewalttätig »jedenfalls, soweit es auf uns ankommt.« Eine interessante Relativierung.

Auf die Frage, warum sich die Proteste nicht gleichermaßen gegen Ägypten richten würden, schließlich sei auch diese Grenze abgeriegelt, antwortet al-Kurd dem Magazin im selben Interview: »Wenn wir den Eindruck gehabt hätten, dass [die Hamas] oder irgendeine andere Partei tatsächlich versucht hätte, den Protest zu kontrollieren und zu ihrem zu machen, würden wir das nicht zulassen. Hamas ist in diesem Punkt sehr verständnisvoll. (…) Sie haben Recht damit, dass Ägypten Teil der Belagerung ist, aber es besetzt uns nicht und kontrolliert nicht jeden Aspekt unseres täglichen Lebens wie Israel. Wir sind Palästinenser, und wie ich bereits erwähnt habe, geht es in dem ganzen Protest um die Resolution 194 des UN-Sicherheitsrates (das Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge), und Ägypten hat damit nichts zu tun.«

Getrennt marschieren, vereint schlagen

Abgesehen davon, dass wir wissen, wie die Sache tatsächlich ausging, benennt al-Kurd unmissverständlich sein Ziel: den Einmarsch nach Israel. Unwidersprochen verkehrt er die Realität ins Gegenteil. Denn Israel »kontrolliert« das tägliche Leben in Gaza vor allem, indem es Wasser und Strom liefert und über den Grenzübergang Kerem Shalom den Austausch von Gütern ermöglicht, während die Grenze zu Ägypten nach der Zerstörung der Schmugglertunnels durch die Ägypter so gut wie dicht ist.

Auch der zweite Zeuge für die friedlichen Absichten des Protests, Ahmed Abu Artima, macht aus seinem Herzen keine Mördergrube: »Ich glaube an die Beendigung der Apartheid in Israel, an das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika und daran, dass wir alle in einem einzigen demokratischen Land leben. Ich möchte mit Israelis leben. (…) Es ist einfach nicht nötig, der Besatzung mit Armeekorps zu widerstehen. Der Besatzung kann genauso gut mit Dabke (ein arabischer Folkloretanz) widerstanden werden, oder einfach indem man dort sitzt«, sagt er im von Osten-Sacken verlinkten Interview mit Ynet, in dem es weiter heißt:

»Abu Artima erklärte jedoch, dass er keine Bedenken habe, dass die Hamas ihre Kämpfer an die Grenze nach Gaza schickt. ›Ich bin kein Hamas-Sprecher‹, sagte er. ›Es ist positiv, dass die Menschen begonnen haben, an eine friedliche Opposition zu glauben. Israel möchte uns in die Gewalt hineinziehen.‹ (…) In einem Gespräch mit Ynet letzte Woche erwiderte der politische Aktivist auf die israelischen Ängste vor einem Massenexodus von Palästinensern gegen den ›Wenn palästinensische Flüchtlinge eines Tages entscheiden, den Zaun zu durchbrechen und massenweise in Israel einzudringen, dann ist das ihr legales und grundsätzliches Recht, aber wir haben nicht die Absicht, dies in der ersten Phase der Kampagne zu tun.‹«

In der ersten Phase der Kampagne, wohlgemerkt.

Bei näherer Betrachtung verfließt der Unterschied zwischen den als Zeugen für Gewaltfreiheit angeführten Aktivisten und der Hamas. Beide Aktivisten bezeichnen Israel als Besatzungsregime, beiden teilen mit der Hamas dasselbe Ziel, nämlich für 2 Millionen Palästinenser den Weg nach Israel freizumachen. Mit »Besatzung« kann offensichtlich nur Israel selbst gemeint sein, denn seit 2005 war der einzige israelische Soldat in Gaza der von der Hamas entführte Gilad Shalit. In diesem Licht wird dieser »gewaltfreie Protest« zur Fortsetzung des Kampfes gegen Israel mit anderen Mitteln. Denn wenn die Gewaltfreiheit nur das Alibi der Gewalt ist, weil sie den Terror begleitet oder ihm vorangeht, verlieren die Gewaltfreien ihre Unschuld.

Es mag sein, dass die Personen, die »Großen Marsch der Rückkehr« geplant hatten, nicht direkt der Hamas zuordenbar sind. Aber unter den Rahmenbedingungen dieser Diktatur können sich in Gaza nur Massenbewegungen entwickeln, die entweder von der Hamas geduldet werden und mit ihr kooperieren, oder im Widerstand zur Hamas stehen. Was jeden »friedlichen Protest«, sofern er sich nicht gegen die Hamas selbst richtet, von vornherein den Zielen der Hamas unterordnet. Niemand, der diesen Marsch der Rückkehr geplant und mit zu verantworten hat, kann so naiv sein, das nicht zumindest billigend in Kauf zu nehmen.

Kein Gandhi in Palästina

Was uns unmittelbar zur zweiten Kernthese von Osten-Sackens Text führt. Das große Vorbild des Marsches sei ursprünglich Gandhis Salzmarsch in Indien gewesen, schreibt der Autor, denn wenn Zehntausende von allen Seiten unbewaffnet und friedlich auf Israels Grenzen zumarschieren würden, mit Olivenzweigen in den Händen, bereit, sich erschießen zu lassen beim Versuch die Grenze zu überwinden, dann wäre das für Israel wesentlich bedrohlicher als das gesamte Raketenarsenal der Hamas. »Dann nämlich stünde nicht nur die israelische Regierung, sondern die ganze Gesellschaft vor der Frage, ob man bereit ist, seine Grenzen notfalls mit tödlicher Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu verteidigen. Wie lange wären Rekruten der Armee bereit, dies zu tun, bis die ersten den Dienst verweigern?«, fragt Osten-Sacken.

Eine berechtigte, wenn auch rhetorische Frage. Denn abseits aller moralischen Erwägungen: Es macht etwas mit Menschen, wenn man sie zwingt, auf Frauen und Kinder zu schießen. Und es macht etwas mit einer Gesellschaft, wenn sie von ihren Söhnen und Töchtern verlangt, auf Unbewaffnete zu schießen. Ein Szenario, in dem das Militär wahllos tausende unbewaffnete Menschen erschießt, würde nicht nur Israel an die Grenzen seiner Existenz bringen, sondern jedes demokratische Land dieser Erde. Keines wäre einer solchen Situation auf Dauer gewachsen.

Doch dieses Bild hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Der Vergleich mit Gandhi ist falsch: politisch und strategisch. Das Szenario kann so nicht eintreten, weil es einen Widerspruch in sich selbst darstellt.

Gandhis Salzmarsch war ein Akt des zivilen Ungehorsams gegen die britische Besatzungsmacht im eigenen Land, deren Salzmonopol die indischen Bauern in Armut stürzte. Gandhis Strategie, genannt »Satyagraha«, ruhte auf zwei Säulen: dem zivilen Ungehorsam und dem, was Gandhi »constructive program« nannte. Darunter verstand er einen »Kampf durch Gemeinschaft und Selbstverbesserung zu führen, einen Kampfg um den Aufbau von Strukturen, Systemen, Prozessen und Ressourcen, die eine Alternative zur Unterdrückung darstellen und Selbständigkeit und Einheit in der widerstehenden Gemeinschaft fördern.« Nur um unabhängig zu werden, ohne vorherige Planung und die Kooperation von Millionen, sei ziviler Ungehorsam nur reines Draufgängertum und »schlimmer als nutzlos«, so Gandhi weiter.

Konkret auf die Situation der Palästinenser umgelegt: Die Welt kennt bislang kein »constructive program« der Palästinenser in Gaza, weder von der Hamas noch von irgendeinem »friedlichen Aktivisten«. Ziviler Ungehorsam findet innerhalb des eigenen Landes statt, man kann mit ihm nicht fremdes Territorium erobern. Eine gut gesicherte Grenze kann nicht mit friedlichen Mitteln überwunden werden. Dazu braucht es Bolzenschneider, Sprengstoff, was auch immer, mit Olivenzweigen lässt sich Stacheldraht nicht überwinden. Entweder sind Demonstranten friedlich, oder sie stürmen eine Grenze. Beides zugleich geht einfach nicht. Und wenn die Palästinenser auf der anderen Seite der Grenze bleiben, Dabke tanzen und Fußball spielen, wird sich die Grenze deswegen nicht öffnen.

Doch selbst wenn, for the sake of the argument, was wäre, wenn die Grenze erst einmal überwunden ist? Glaubt irgendjemand, dass ausgerechnet jene Palästinenser, die in Gaza trotz Milliarden von Dollar Unterstützung kläglich am Aufbau einer funktionierenden staatlichen Infrastruktur scheitern und deren Führer selbst eine Herrschaft der Gewalt und Unterdrückung errichtet haben, plötzlich eine »Alternative zur Unterdrückung darstellen« würden?

In Wahrheit würden die »friedlichen Demonstranten«, so sie denn überhaupt friedlich wären, unzählige Räuber und Mörder im Schlepptau haben. Denn die Hamas und ihre Milizen lösen sich nicht in Luft auf, wenn sich die Grenzen öffnen. Im Windschatten solcher friedlichen Proteste würden mindestens 20.000 bewaffnete Kämpfer nach Israel strömen. Der gegenwärtig lokal eingegrenzte Konflikt würde zu einem Straßenkampf auf israelischem Boden. Die Hamas und die friedlichen Aktivisten mögen getrennt marschieren, aber im Ergebnis schlagen sie vereint.

Und genau das unterscheidet die »friedlichen Demonstranten« von Gandhis Bewegung. Denkt man das Szenario zu Ende, endet jeder Marsch auf die Grenze, so er denn das Ziel hat, diese zu überwinden, nicht mit einer Demokratie, sondern mit einer Welle von Gewalt und Terror – erst Recht, wenn der Versuch gelingen sollte. Insofern ist die Idee, Zivilisten an und in der Folge irgendwann über die Grenze zu schicken, begleitet oder gefolgt von bewaffneten Milizen, nur eine Fortsetzung der bisherigen Taktik der Hamas, deren Kämpfer sich noch in jeder Auseinandersetzung hinter Frauen und Kindern versteckt haben. Die »friedlichen Demonstranten« wären nur das Alibi der sie begleitenden Gewalt. Die Opfer der Palästinenser wären »schlimmer als nutzlos«.

Und doch kann Gandhi ein Vorbild für die Palästinenser sein. Seine Strategie, konsequent umgesetzt, könnte die Gaza-Palästinenser zu Freiheit und Wohlstand führen: wenn sie sich nicht gegen Israel richtet, sondern gegen die Hamas.

Dieser Text ist Teil einer Diskussion über den »Marsch der Rückkehr« mit Thomas von der Osten-Sacken. Teil 1 findet sich hier, Teil 2 hier.

Zuerst erschienen auf mena-watch

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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.