JUDENLIEDER

J

Zeugen der Anklage

Musikalisches Talent und Dichtkunst scheinen in der Bevölkerung unabhängig von der politischen Positionierung verteilt zu sein, was wiederum beweist, dass die Annahme, Kreativität und künstlerisches Schaffen sei nur auf der linken Seite zu finden, eindeutig falsch ist.

In den letzten Monaten und Jahren tauchten immer wieder Lieder auf, gesammelt in schmuckhaften Büchern, die meist auf den Nachkästchen verschiedener Burschenschafter und manchmal auch Abgeordneter des Nationalrats zu finden sind, die Juden zum Thema machen und in der treu-deutschen Tradition des Herrentums, die Vorstellungen und Einstellungen ihnen gegenüber manchmal sogar in Reimform wiedergeben.

Wie kann man sich das doch so gut vorstellen, wenn am Vereinsabend Männer in engen Lederhosen, knapp über die Knie reichend, mit breiten Riemen, die sich über den fetten Bauch weiter über die Schultern legen und an der Rückseite wieder angeknüpft sind, in rotweiß karierten Hemden, manchmal in anderen Trachten mit dem Bierkrug in der Hand laut singend einfach lustig sind. Der Wiener würde sagen: A Hetz woar’s! 

Später, von irgendjemandem auf die Inhalte der Lieder angesprochen, würde man erstaunt reagieren, warum denn andere nicht verstehen könnten, dass man einfach nur heiter sein wollte. Das sei doch alles nicht so ernst gemeint, wie auch in anderen Volksliedern oder Märchen Grausamkeiten, Vorurteile und Gemeinheiten vorkommen würden, ohne dass damit jemand persönlich beleidigt werde. Man könne sich doch nicht immer Traditionellem verweigern und alles umschreiben, nur um den modernen Bedürfnissen des Politisch-Korrekten zu entsprechen. Und übrigens – kommt dann noch als intellektuelle Zugabe – es würde ja auch die »andere Seite« immer wieder mit Begriffen wie »Faschismus« und »Nazis« herumwurtschteln, das seien ebenso fragwürdige Vergleiche und Beleidigungen, und niemand würde sich darüber aufregen. Ganze Strophen in Liedern werden vorgebracht, die andere Vereine singen, und ebenfalls nicht den Bedürfnissen einer demokratischen Gesellschaft entsprechen und keinen würde es stören.

Das wären – kurz zusammengefasst – die Tatsachen, wie sie in den Medien beschrieben werden. Doch es gibt noch eine andere Dimension in dieser Auseinandersetzung zwischen Liedermachern und Kritikern, die dabei völlig vergessen wird – die Menschen, die in den Liedern beleidigt und gedemütigt werden. Die Auseinandersetzung in den Medien und zwischen politischen Parteien beschränkt sich auf die Sänger, die Dichter, die Organisationen mit ihren Vertretern, die hinter den Liederbüchern stehen. 

Aber was ist mit den »Besungenen«? Mich hat noch nie jemand gefragt, wie es mir gehen würde, wenn Juden in Liedern verhöhnt werden. Man hat sich auch nicht an die Jüdische Gemeinde gewendet, man fand keine Interviews mit deren Vertretern in den Medien. Manchmal wenden sich Funktionäre der Gemeinden an die Öffentlichkeit, empört und auch verzweifelt über solche Ereignisse. Doch auch in diesen Situationen werden ihre Worte einfach nur benutzt, um gegen die Verantwortlichen der Liederbücher vorzugehen.

Parallel zum aggressiven Zugang zu den Verantwortlichen für die Lieder gibt es kein Interesse für jene, die in den Texten beleidigt werden. Sie werden als Menschen nicht wahrgenommen, was es für ihren Alltag bedeutet, interessiert niemanden. Wenn solche Lieder-Texte in der größten Tageszeitung veröffentlicht werden, klopfen sich Journalisten und Zeitungsmacher gegenseitig auf die Schultern über die grandiose »Aufdeckungsarbeit« und werden von Kollegen/Innen in anderen Medien gefeiert, die diese Beiträge mit Begeisterung übernehmen, prominent platzieren und kommentieren und nicht eine Sekunde lang daran denken, wie es jenen geht, die in den Liedern beleidigt werden. 

Juden haben plötzlich eine wichtige Funktion bekommen in der Auseinandersetzung über rechtsextremen und islamistischen Rassismus. Wir sind das fehlende Beweisstück, der DNA-Nachweis, der Fingerabdruck, oder die Autonummer, die sich der Beobachter eines Bankraubs noch schnell notiert hatte, bevor die Räuber davonrasten. Wir sind nicht die Zeugen, die Opfer, die auftreten und die Täter belasten, wir sind das Beweismaterial der Anklage. Nicht wir als Betroffene kommen zu Wort, niemand fragt uns, wie wir damit umgehen, im Gegenteil, am besten, wir halten uns zurück, lassen die Beweise sprechen und mischen uns nicht ein. Die Ankläger brauchen uns nicht, lieber mit Polemiken gegen Juden, aber ohne Juden. 

Da Juden selten mit einer Stimme sprechen, untereinander oft zerstritten sind und auch in dieser kleinen Gruppe verschiedene, politische Meinungen existieren, möchten die Verurteiler nicht das Risiko eingehen, mit störenden Zwischenrufen konfrontiert zu werden. Wenn zum Beispiel der deutsche Historiker Michael Wolffsohn auf die Gefahren des muslimischen Antisemitismus verweist, reagieren jene, die gerne diese Verantwortung nur den Rechtsextremen um den Hals hängen, mit Empörung, sozusagen mit der Message, was mischt der sich ein. Nur weil er Jude ist, glaubt er, er könne uns den Antisemitismus erklären. Ähnlich waren die Reaktionen auf die Warnungen des Malers Arik Brauer, der ebenfalls vom gefährlichen Judenhass der Muslime sprach. Auch er wurde kritisiert und oft genug beleidigt, als »alter Mann«, der sich lieber zurückhalten sollte.

Kritik gegen Antisemitismus wurde zum verbalen Werkzeug degradiert, der sich vom einzelnen Juden längst gelöst hat. Wer fragt mich, ob ich mich betroffen fühle, wenn Soros vom ungarischen Ministerpräsidenten, oder Rothschild in Liedern als Schwein beleidigt wird? Wer macht mich hier zum Betroffenen, zum potentiellen Opfer? Es ist nicht mehr meine Entscheidung, ob ich mich mit Soros oder Rothschild solidarisiere, ihn verteidige und seine Kritiker kritisiere, die Loyalität wird uns Juden übergestülpt. Wenn es gegen Soros geht, geht es gegen euch alle, wird uns vermittelt! Das solltet ihr als Warnung erkennen!

Langsam begreifen wir Juden es auch, und danken allen, den Medien, den Politikern, all den ehrbaren Menschen, die aus lauter Anständigkeit uns warnen, fast täglich in den letzten Monaten und uns erfolgreich beunruhigen. Denn Gott behüte, wir würden plötzlich drei Generationen nach dem Holocaust ein normales Leben versuchen – das wäre nicht zumutbar, weder den Juden noch den wachsamen Anti-Antisemiten.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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