Anschlag auf der Promenade von Tel Aviv. (© imago images/NurPhoto)
Ausschreitungen auf dem Tempelberg während des Ramadans: Same procedure as every year? Nicht ganz.
Auf den ersten Blick ist man versucht, die aktuellen Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften für das sich alljährlich wiederholende Schauspiel zu halten:
Erster Akt: Palästinensische Jugendliche randalieren auf dem Tempelberg, bewerfen betende Juden und israelische Sicherheitskräfte mit Steinen und beschießen sie mit Feuerwerkskörpern. Israelische Polizisten gehen dazwischen. Die Palästinenser verbarrikadieren sich in der Al-Aksa-Moschee, wo sie vorher Steine gelagert haben. Die Polizei stürmt die Moschee und verhaftet die Randalierer. Steine fliegen. Tränengas, Schlagstöcke, Geschrei. Wenig später fliegen aus dem Gazastreifen Raketen nach Israel. Kampfflugzeuge aus Israel fliegen in den Gazastreifen und zerstören die Abschussbasen.
Zweiter Akt: Pallywood sendet die Bilder und Filmaufnahmen aus der Al-Aksa-Moschee in die ganze Welt. Die Vorgeschichte wird ausgeblendet. Auf der einen Seite weinen schwarz gewandete Frauen in die Kamera, auf der anderen Seite schlagen israelische Polizisten in Kampfmontur auf Palästinenser ein. In der arabischen Welt befeuern die Bilder die Propagandalüge, »die Juden« wollten die Al-Aksa-Moschee zerstören und den Tempel wiedererrichten, in der westlichen schädigen die oft kritiklos übernommenen Berichte das Ansehen Israels. Die Hamas hat sich bei ihren Geldgebern einmal mehr als Verteidigerin der drittwichtigsten Moschee des Islams positioniert und den Propagandakrieg gewonnen. Vorhang.
Doch diesmal ist die Situation anders. Und sie ist gefährlicher als in den letzten Jahren.
Ein geschwächter Staat
Die Proteste der letzten Wochen in Israel richteten sich nur vordergründig gegen eine überschießende Justizreform, die wohl eine Mehrheit der Israelis zwar für grundsätzlich notwendig hält, in dieser Form und von dieser Regierung aber auf breiten und berechtigten Widerstand stößt. Die Demonstranten wollen den verhassten Ministerpräsidenten und dessen rechtsradikale Minister loswerden. Sie wollen den Sturz der Regierung; mit einem Gesetzeskompromiss werden sie sich kaum zufriedengeben.
Lange währende Proteste zeichnen sich ab, die durch die Spannungen zwischen den häufig in vergleichsweise prekären Verhältnissen lebenden sephardischen Juden und der aschkenasischen Elite verstärkt werden. Hinzu kommt der Hass von Teilen der säkularen Bevölkerung auf die Charedim, die Ultraorthodoxen, die sich sowohl dem Militär als auch der Erwerbstätigkeit verweigern. Der spektakuläre Widerstand eines Teils der Milizsoldaten verschafft den Protesten zusätzliche Popularität und vor allem Legitimität. Es sind die vielen Ebenen, die die Proteste berühren, die sie über einen »gewöhnlichen« Widerstand von Oppositionellen gegen eine Regierung hinausheben.
Gleichzeitig gerät Israel auf internationaler Ebene unter Druck. Von Seiten der EU und der Regierung von Joe Biden war nichts anderes zu erwarten, aber dass Saudi-Arabien mit dem Iran wieder diplomatische Beziehungen aufnimmt, war ein Schock – und womöglich ein herber Rückschlag für den Normalisierungsprozess in den israelisch-arabischen Beziehungen. Auch wenn man die Auswirkungen auf die Sicherheit des Landes nicht überschätzen sollte, lassen sich die Ereignisse der letzten Wochen in zwei Sätzen zusammenfassen: Diese Regierung tut dem Land nicht gut. Israel scheint von innen und außen geschwächt.
Angriff von allen Seiten
Wenn Israels Feinde Schwäche wittern, greifen sie an. Schon vor dem Ramadan wurde in den arabischen sozialen Netzwerken großflächig das Gerücht verbreitet, Israel werde muslimische Gebete auf dem Tempelberg nicht zulassen. In den ersten beiden Wochen des Fastenmonats kamen Zehntausende muslimische Gläubige auf den Tempelberg. Als sich junge Muslime in der Moschee verbarrikadierten, die Gläubigen am Verlassen des Geländes hinderten und das Mobiliar in der Moschee zerstörten, geriet die Situation aus den Fugen und es kam zu den eingangs beschriebenen Szenen.
Doch anders als in der Vergangenheit flogen die Raketen diesmal nicht nur aus Gaza, sondern auch aus dem Libanon. Die 34 Raketen vom vergangenen Donnerstag markierten den stärksten Beschuss aus dem Libanon seit dem Jahr 2006. Operativ führte zwar die Hamas die Angriffe aus, doch es besteht kein Zweifel, dass sie mit Rückendeckung der Hisbollah agierte.
»Die Nordgrenze Israels ist in Wirklichkeit die Front des Westens mit dem Iran«, bringt Sarit Zehavi, die den am Golan gelegenen Thinktank Almaleitet, die geostrategische Dimension der Angriffe auf den Punkt. Der Iran glaube, dass Israel von innen heraus geschwächt sei und die amerikanische Unterstützung für Israel und die iranische Opposition nachlassen werde. »Die Hisbollah will die Situation an der Nordgrenze eskalieren lassen«, schreibt sie in ihrem Newsletter und schildert die Herausforderung für die israelischen Sicherheitsbehörden an der Nordgrenze: Sie müssen eine wirksame Abschreckung erzielen, ohne die Situation zu einem Krieg eskalieren zu lassen.
Währenddessen mehren sich die Terroranschläge auf israelische Zivilisten. Im Westjordanland erschossen palästinensische Terroristen am Freitag zwei britisch-israelische Schwestern, deren Mutter überlebte schwer verletzt. Eine der Schwestern war 15 Jahre alt, die andere in ihren 20ern. Und während ich diese Zeilen schreibe, erreicht mich die Nachricht von einem Terroranschlag mit einem Wagen an der Strandpromenade von Tel Aviv. Nach Angaben von Rettungsdiensten sind ein Italiener getötet und sieben weitere Touristen verletzt worden. Der Täter, ein 44-jähriger arabischer Israeli aus Kafr Qasem, ist von einem Polizisten erschossen worden, als er versuchte, eine Waffe zu ziehen, nachdem sich sein Auto überschlagen hatte.
Den aktuellen Herausforderungen zum Trotz: Das Kalkül der Feinde Israels wird nicht aufgehen. Das Land hat schon ganz andere Krisen überstanden, es wird auch diese überstehen.
Zuerst veröffentlicht auf MENA-WATCH.
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