Von einer Krise in die nächste

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Europas Schwerfälligkeit ist keine gute Voraussetzung für die Bewältigung der multiplen Krisen unserer Zeit.

Die französischen Parlamentswahlen waren ein Blick in die Zukunft: die linksliberalen urbanen Zentren entfernen sich immer weiter von den Vorstädten und den ländlichen Gebieten – geographisch, sozial, kulturell und politisch. Die Angst vor dem Abstieg, dem eigenen und dem der Kinder, kriecht tief in Schichten hinein, die gestern noch zur Mittelschicht zählten. Als unmittelbare Folge werden die politischen Ränder gestärkt. Die »Mitte der Gesellschaft« franst nach links und rechts aus, mit den Themen Wohlstandsverlust und Zuwanderung punkten vor allem Populisten aller Couleurs. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung fühlt sich von der Politik überhaupt nicht mehr vertreten und bleibt bei Wahlen von vornherein zuhause. 

Beispiele für politische Debatten, in denen das Sein das Bewusstsein bestimmt, gibt es zuhauf. So singt sich das Hohelied des öffentlichen Nahverkehrs eben leichter in einer Metropole mit gut ausgebautem Verkehrsnetz als am Land, wo die Wege weit sind zu Fußballplatz, Kino oder Klavierunterricht, und wo der Hausarzt im – eh nur – acht Kilometer entfernten Nachbarort ordiniert, weil praktische Ärzte in Landgemeinden inzwischen seltener sind als Fußballer ohne Tattoos. 

Wer sozial abgesichert in einem schicken Bezirk wohnt, hat einen anderen Blick auf Zuwanderung als jene, die den Preis für Massenmigration schon jetzt mit einer Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse bezahlen. Sei es durch den Verlust an Sicherheit, durch Schulklassen, in denen die eigene Muttersprache Minderheitsprogramm ist, oder durch Konkurrenz um Wohnung, Arbeit und staatliche Transferleistungen. Ganz zu schweigen von Vierteln, in denen die Staatsgewalt vor den herrschenden Clans schon heimlich kapituliert hat. Und solche Viertel gibt es inzwischen von Malmö bis Marseille zuhauf.

Die »soziale Frage« ist zurück und sie entscheidet Wahlen. Denn die rasant steigende Inflation macht alle ärmer und noch mehr unkontrollierte Zuwanderung führt zu noch mehr sozialen Spannungen. Leider ist die Inflation schon da und stehen neue Einwanderungswellen unmittelbar bevor. Eine europäische Strategie, wie wir damit umgehen sollen, ist nicht erkennbar. 

Die Herausforderung

Lehrbuchmäßig lässt sich die Inflation nicht bekämpfen. Wenn die EZB den Leitzins an die Inflation anpasst, kann halb Europa seine Staatschulden nicht mehr bezahlen. Bert Flossbach, Co-Gründer des Vermögensverwalters Flossbach von Storch, sieht in einem Produktivitätsschub der Wirtschaft die einzige Hoffnung, die Inflation zu dämpfen, die durch die »drei grossen D: Dekarbonisierung, Demografie und Deglobalisierung« zusätzlich angetrieben wird, wie er in der NZZ beschreibt: 

»Die Alterung der Bevölkerung führt zu einem strukturellen Mangel an Arbeitskräften – und treibt so die Löhne in die Höhe. Hinzu kommen Deglobalisierung und Dekarbonisierung. Viele Firmen denken nicht zuletzt aufgrund der jüngst gemachten Erfahrungen in China und der Probleme bei den Lieferketten darüber nach, Produktionsstätten nach Hause oder zumindest in die Nähe der Abnehmer zu holen. Der Ukraine-Krieg zeigt zudem, wie gefährlich es ist, große Produktionskapazitäten in einem politisch instabilen Land haben. Bei der Dekarbonisierung sind Preissteigerungen quasi Teil des Konzepts.« 

Die Inflation ist längst bei jedem Konsumenten angekommen. Wie lange sie anhält, hängt davon ab, ob Europa in der Lage ist, kurzfristig die Rahmenbedingungen für den erforderlichen Produktivitätsschub zu schaffen. 

Dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine im Herbst oder Winter dieses Jahres zu einer ernsten Nahrungsmittelkrise im Nahen Osten und in Afrika führen wird, liegt auf der Hand. Zu viele Staaten sind von ukrainischen und russischen Getreideimporten abhängig und haben nicht die Mittel, diese Importe durch teurere Lieferanten zu ersetzen. Das ist der Stoff, aus dem Aufstände und Fluchtbewegungen gemacht werden. 

Von den sieben Hauptgründen, die das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, im September 2015 für die Massenflucht aus ihren Lagern nannte, werden uns fünf bald wieder bekannt vorkommen: Hoffnungslosigkeit, hohe Lebenskosten und steigende Armut, wenig Möglichkeit den Lebensunterhalt zu sichern, unterfinanzierte Hilfsprogramme und physische Unsicherheit. Doch in einer Zeit, in der jeder um die eigene Versorgung kämpft und die Bevölkerung unter den horrenden Energiepreisen stöhnt, stehen internationale Beschaffungs- und Finanzierungsprogramme nicht hoch im Kurs. Aber wenn die Menschen schon an den Grenzen stehen, ist es für »Hilfe vor Ort« zu spät.

Sind wir gewappnet?

Seit Anfang des Jahrtausends stolpern wir von einer Krise in die nächste. Trotz der Terroranschläge von 9/11, der (bis dahin) größten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 2008, der Migrationskrise 2015/16, des Aufstiegs des IS und der weltweiten Anschläge islamischer Terroristen auf der ganzen Welt – im Vergleich zu Corona, dem Zusammenbruch der globalen Lieferketten und Russlands Krieg gegen die Ukraine wirken die 00er und 10er Jahre geradezu beschaulich. Zu allem Überdruss ist die bisherige Krisen-Performance Europas wenig vielversprechend:

Wir haben die militärische Verteidigung unserer Sicherheit an die USA delegiert und die Sicherung unserer Außengrenzen an Erdogan und libysche Warlords. 

Die hemmungslose Ausweitung der Geldmenge durch die EZB führte zu einer enormen Asset-Inflation: Wenn die Preise für Sachwerte bei niedrigen Zinsen durch die Decke gehen, häuft Vermögen an, wer genug Bonität (sprich Verschuldungspotenzial) hat, während für Vermögens- bzw. Einkommensschwächere der Erwerb von Immobilien immer unerschwinglicher wird. Die immer strengeren Kriterien für die Kreditvergabe, zu denen die europäischen Banken verpflichtet werden, verstärken diese Entwicklung. Gleichzeitig mangelt es unseren Finanzmärkten an Kraft: gemessen an ihrer Marktkapitalisierung hatten 2021 von den fünfzig größten börsennotierten Unternehmen gerade einmal drei ihren Sitz in der Europäischen Union.

Überall fehlt es an Dynamik, überall haben die Bedenkenträger die Oberhand, ganz besonders im deutschsprachigen Raum. Datenschutz sticht Digitalisierung; Angst und eine epidemische Skepsis gegenüber Gentechnologie verhindern die Entwicklung von Pflanzen, die besser an den Klimawandel angepasst sind; eine ideologisch getriebene Technologiefeindlichkeit verhindert die CO2-neutrale Grundversorgung mit Elektrizität durch Kernenergie; und egal, ob es um Straßen, Schienen oder Windräder geht: Die Genehmigungsverfahren sind viel zu lang und am Ende findet sich immer irgendein seltener Lurch, dessen Lebensraum unbedingt erhalten werden muss. So wird jedes Infrastrukturprojekt verzögert, verteuert oder verhindert. 

Woher der Produktivitätsschub kommen soll, bleibt also bis auf Weiteres im Dunkeln. Es ist schwer, in diesen Zeiten Optimist zu sein.

 Zuerst erschienen im Pragmaticus.


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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.