Geschichten einer Freundschaft
Ich kam etwas früher zum Frühstück als an den anderen Tagen. Um sieben Uhr lag ich wach im Bett, konnte ich nicht mehr schlafen und wollte hinunter zum See, den man durch die Schwimmhalle erreicht, in der eine ältere Frau mit ungefärbten, grauen Haaren sich mit den verkrampften Fingern einer Hand an der Schulter ihres Mannes festhielt, und sie beide sich langsam vom Rand des Beckens zur gegenüberliegenden Seite bewegten. Der Mann ging leicht in die Knie bei jedem Schritt, richtete sich wieder auf und suchte im Wasser nach der anderen Hand seiner Frau. Sie drehten sich langsam beim Gehen als würden sie tanzen. Wie alt die beiden wohl sein könnten, dachte ich mir, und wie viele Jahre mich von ihnen trennen würden.
Über die Wiese des Hotels Seeefischer am Ufer des Millstättersees erreichte ich eine Holzhütte, die auf Stelzen im Wasser steht, und in der die Sauna ist. Hinter der Sauna kann man nackt neben einer alten, verrotteten Holzstiege in den See springen, ohne die anderen Hotelgästen zu erschrecken.
Vor der Sauna zog ich meine Badehose aus, um dann so schnell wie möglich das Wasser zu erreichen, als die Tür zur Sauna aufging und eine junge Frau herauskam, nackt, mit einem tätowierten Wort über dem schwarzen Dreieck zwischen ihren Beinen, das ich vor lauter Schreck nicht entziffern konnte, und einem Handtuch in der Hand ohne auch nur zu versuchen, ihren schönen Körper zu bedecken. Sie sagte lächelnd »Guten Morgen« und stieg über die Holzstiege langsam, Stufe für Stufe in den kalten See. Ich stand hinter ihr, versuchte die Sommersprossen im Nacken unter den roten Haaren zu zählen, bis ich die Kontrolle verlor und meine Augen über die Rückseite des Körpers wanderten, als wäre es eine Landkarte, auf der ich einen bestimmten Ort suchte.
R. kam erst um neun Uhr in den Frühstücksraum. Er sei seit drei Stunden wach und habe noch schnell diesen Berg bestiegen, sagte er und deutete auf einen bewaldeten Hügel hinter dem Hotel. Er trug eine zu enge, dunkelblaue kurze Hose und ein rotes T-Shirt, das ihm auf dem fetten Bauch klebte, beide aus diesem besonderen Material, das angeblich das Wandern zum reinen Vergnügen mache, wie er mir jedes Mal erklärte. Er legte die beiden Wanderstöcke neben den Tisch, die, wie er mich ebenfalls wiederholt belehrte, seine Knie beim Bergabgehen schützen würden.
»Elf Kilometer noch vor dem Frühstück, ist doch nicht schlecht für mein Alter«, sagte er, drehte sich um und ging zum See um sich abzukühlen, da er wusste, dass ich ihm darauf nur eine blöde Antwort geben würde. Zehn Minuten später kam er zum Frühstück in einem tadellosen, kurzärmeligen Hemd und einer hellen Hose, bestellte ein weiches Ei und sagte: »Du weißt, dass wir heuer etwas zu feiern haben!«
Ich überlegte, ob ich einen besonderen Hochzeitstag oder Geburtstag vergessen hatte, doch mir fiel nichts ein. Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Keine Ahnung«.
»Vierzig Jahre sind wir heuer befreundet!«, sagte R. und grinste. Ich lachte laut auf, wollte es nicht glauben und begann die Jahre zu zählen.
»Es muss 1978 gewesen sein, als wir bei Volkswagen als Management-Trainer arbeiteten. Wir beide saßen auf dem Rücksitz im Auto des Seminarleiters auf dem Weg von Wien nach Wolfsburg. Er erklärte uns, dass wir bei der Gruppendynamik den 2. Weltkrieg vermeiden sollten. Das sei immer noch ein heikles Thema.«
Ich musste wieder lachen, denn jetzt konnte ich mich erinnern. Ich fragte den Seminar-Leiter damals, wie er sich das vorstelle, wenn einer der Trainer wie eine Stürmerkarikatur aussehe, und deutete auf R. In der Mittagspause des ersten Tages in Wolfsburg fragte ich R., wie lange es gedauert hätte, bis alle über den Krieg gesprochen hätten. Vielleicht zehn Minuten, antwortete er und wir beide kicherten wie zwei junge Mädchen.
So begann unsere Freundschaft. Ich versank in Erinnerungen und vergaß mein Frühstück auf der herrlichen Terrasse hier am See. Vierzig gemeinsame Jahre mit zwei völlig unterschiedlichen Lebensreisen. Der eine von uns in der Stabilität als Arzt Jahrzehnte im selben Krankenhaus, und der andere von Land zu Land wandernd wie ein Obdachloser, der hofft einen Sinn im Leben zu finden. Beide trennten wir uns von den Frauen, mit denen wir lebten, als wir uns kennenlernten. Als R. mich kurz vor der Scheidung besuchte, betrat er völlig aufgelöst meine Wohnung und stammelte nur, dass er nicht mehr weiterkönne, alles keinen Sinn habe und fragte mich, ob ich ihm eine Pistole besorgen könnte.
»Wozu eine Pistole‚ ich wohne im fünften Stock«, antwortete ich ihm. Später an diesem Tag besuchte er seine Mutter und beschrieb ihr den Besuch bei mir. Warum er sich mit diesem Typen überhaupt noch abgebe, fragte sie ihn, und er antwortete, der erspare ihm den Therapeuten.
Mir sprangen die Bilder der Erinnerungen im Kopf herum, ungeordnet und nicht nach Wichtigkeit gereiht. Als R. mich in New Delhi besuchte, wo ich als Auslandskorrespondent arbeitete, saßen wir tagelang im Wohnzimmer und sahen alte Filme mit Hans Moser, anstatt die Stadt zu erforschen.
Ein paar Jahre lang besuchten wir die Salzburger Festspiele, bis uns die High Society derart auf die Nerven ging, dass wir zu streiten begannen, R. den Urlaub frühzeitig abbrach und ohne mir ein Wort zu sagen, einfach nach Hause fuhr. Als wir noch weniger Geld hatten, teilten wir bei unseren Reisen ein Zimmer. Da R. laut schnarchte, stieß ich ihn immer wieder aus dem Bett, und wir schliefen beide auf dem Boden in den am weitesten entferntesten Ecken des Raumes.
Nach Berlin kam er in den achtziger Jahren, um meiner damaligen Partnerin, die sich als Künstlerin definierte, zu erklären, wie man ein Baby badet und wickelt. Aus Brasilien rief ich ihn an, weil mein Sohn krank wurde, und ich keinen Arzt fand, dem ich vertraute. Er ließ sich genau die Symptome beschreiben und erklärte mir, was ich tun sollte. Einmal kaufte er ein Auto von mir, das wenige Wochen später zusammenbrach. Nach einem gemeinsamen Schiurlaub in der Schweiz bezahlte ich die Schilehrerin mit seiner Zusage, die Hälfte zu übernehmen, was er später mit dem Hinweis verweigerte, das sei das Schmerzensgeld für die Freundschaft.
Er begleitete mich zur Hochzeit meines Sohnes, als die Polizei mich am Flughafen in Berlin verhaftete, weil die philippinische Kinderfrau, die uns begleitete, kein Visum hatte. Man ließ uns nach ein paar Stunden wieder laufen. Ich mietete ein Auto, um sie zurück nach Wien zu bringen. R. und ich fuhren die Nacht durch, bis wir Wien erreichten und die ständig weinende Kinderfrau wieder zu ihrer Familie brachten.
Mehrere Male forderte man von ihm oder bat man ihn – wegen meines kritischen Buches über Gruppendynamik und später meiner politischen Laufbahn – den Kontakt zu mir abzubrechen, jedes Mal erfolglos, was er mit der Bemerkung mir gegenüber begründete, das Angebot sei immer zu niedrig gewesen.
Er war immer der gläubige Jude von uns beiden und führte mich, den ungläubigen Sohn jüdischer Kommunisten, langsam zum Judentum. Er nahm mich mit nach Israel, ging mit mir in die Synagoge und lud mich zum Seder-Abend zu sich nach Hause ein.
»He! Hör auf zu träumen, wir sollten längst beim Eingang sein!«, unterbrach R. meine Reise in die Geschichten unserer Freundschaft. Der Besitzer des Hotels wollte uns eine Almhütte hoch oben in den Bergen zeigen. Dort begrüßte uns die Wirtin und bat uns noch ein wenig zu warten, da die Forellen, die sie aus dem kleinen See neben der Hütte geholt hatte, noch nicht fertig wären. Auf dem Weg, der hinter dem Haus in den Wald führte, fanden wir, versteckt in dichtem Gras, Eierschwammerln. R. zog seine Jacke aus, und wir knoteten mit den Ärmeln einen Sack für die gesammelten Pilze. Zurück in der Hütte reinigten wir sie, rund um einem Tisch auf der sonnigen Terrasse sitzend. Dann trug R. sie in einer flachen Schüssel in die Küche, schnitt gemeinsam mit der Wirtin, die ihm eine weiße Schürze umgebunden hatte, ein paar Zwiebel, rührte sie in heißer Butter bis sie glasig und durchsichtig waren und warf dann die gelben, gereinigten Pilze in die Pfanne.
Was habe ich mit diesem Menschen gemeinsam, fragte ich mich, als ich ihn beobachtete, wie er scherzend gemeinsam mit der Frau des Hüttenwirtes in der Küche unseren Mittag zubereitete. Was er tut, wie er denkt und handelt, ist mir völlig fremd. Er liebt Shakespeare und hat ein derart schlechtes Musikgefühl, dass er Wagner von Beethoven nicht unterschieden könnte, während ich für Oper und Symphoniker ein Abonnement habe und jedes Theaterstück für mich eine Qual ist. Unsere unterschiedliche Vorstellung von Schönheit verhinderte allerdings, dass jemals eine Frau zwischen uns stand. Er liebt Kriminalromane, ich hasse sie. Er braucht immer Gesellschaft, ist Mitglied in zahlreichen Vereinen und trägt stolz seine Orden bei Veranstaltungen, wo man sie zeigen darf – das genaue Gegenteil von mir, ich bekam nie einen Orden oder eine Auszeichnung und bin in keiner Mitgliederliste eines Vereins. Nur bei der Begeisterung für österreichisches Essen treffen wir uns wieder, und manchmal bestellen wir ein einziges komplettes Menu von Vor- bis Nachspeise und teilen jeden Gang.
»Es gibt Dinge, über die kann ich nur mit dir reden«, sagte er später, zurück im Hotel. Wir lagen nebeneinander, jeder auf einer Liege in der Wiese am See, und beobachteten die untergehende Sonne, wie sie sich immer wieder hinter den Wolken versteckte.
»Mit wem soll ich über den Tod sprechen, über Sexualität, über Frauen, über Probleme in meiner Familie, über Krankheiten, meine Pläne, meine Ängste und meine Hoffnungen. Wer ist überhaupt noch ehrlich zu mir, so rücksichtslos ehrlich wie wir mit einander?«
»Tsa«, antwortete ich ihm und sagte ein wenig später: »Schade, dass wir nicht schwul sind, sonst wären wir längst verheiratet!«
Er lachte und sagte: »Du blöder Hund du, immer eine blöde Antwort, wenn ich einmal etwas Gescheites sage.«
Dann gingen wir zum Abendessen. Als R. sich am Salatbuffet anstellte, und ich alleine am Tisch saß, fielen mir wieder das alte Ehepaar am Morgen im Schwimmbad und die junge Frau vor der Sauna ein. Die vielen Jahre zwischen den beiden, mit all der Bitterkeit und all den Freuden. Wir beide haben längst die mathematische Mitte zwischen der alten Frau und der jungen Schönheit verlassen, und der kleine Dicke vor den verschiedenen Salaten hatte plötzlich etwas sehr Beruhigendes und Tröstendes.
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