Der IS versucht, in Gaza Fuß zu fassen
Viele sehen in den palästinensischen Protesten gegen die Hamas bereits Vorboten eines „Arabischen Frühlings“ im Gaza-Streifen. Doch dieser Frühling könnte in einen tiefen Winter umschlagen.
Ein freies Herz schlägt für immer für die geschundene Bevölkerung, die sich gegen ihre Unterdrücker erhebt. Und gegen eine islamo-faschistische Terrororganisation, die ihre Existenzberechtigung einzig aus dem Willen zur Vernichtung Israels bezieht, schlägt meines besonders laut. »Wir wollen leben« (arabisch bidna naish) nennt sich die Jugendbewegung, die hinter den Demonstrationen in Gaza steht und von weiten Teilen der Bevölkerung und Fraktionen der PLO unterstützt wird. Was für ein kraftvolles Motto, was für ein fundamentaler Gegensatz zum nihilistischen »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod« der Jihadisten.
Sie wollen leben, und wer könnte ihnen das verdenken. 69 Prozent der Jugendlichen im Gaza-Streifen sind ohne Arbeit und meist auch ohne Hoffnung. »Die Söhne der Hamas-Beamten leben in Luxus und vier meiner Söhne sind arbeitslos, ganz Gaza ist arbeitslos, weil Haniyeh und Sinwar (Anm.: Führer der Hamas) sich überhaupt nicht für die Bedürfnisse der Armen interessieren«, zitiert BTNews eine Frau aus Gaza während der Proteste.
Die Hamas ist eine janusköpfige Organisation aus radikal-islamischer politischer Partei, jihadistischen Kampf- und Terrorbrigaden und karitativen Einrichtungen. Bei den Wahlen 2006 galt sie vielen als Gegenpol zur korrupten Fatah, und ihren damaligen Sieg dürfte sie zu einem guten Teil ihrem Image als unerschrockene Freiheitskämpfer und soziale Wohltäter verdanken, das sie bis heute mit dem eigenen Fernsehsender Al-Aqsa-TVprofessionell inszeniert. Dabei hat sie politische Widersacher schon immer rigoros ausgeschaltet. Im Schatten der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit folterte und ermordete sie ihre Rivalen, militärische Auseinandersetzungen mit Israel nutzte sie als Deckung für die Repression nach innen.
Milliarden flossen seit dem Putsch der Hamas im Jahr 2007 in den Gaza-Streifen. Die Weltgemeinschaft sorgte für Bildung, Gesundheit und Ernährung, die arabischen Verbündeten beschafften die Mittel für Waffen, Terrortunnel und die Angriffe auf Israel. Eine fatale Arbeitsteilung, nicht nur für Israel, sondern auch für die Einwohner von Gaza. Denn die Hamas hatte nie Interesse an der Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung. Stattdessen hetzt sie die Jugend in einen sinnlosen Kampf gegen Israel, der nicht die geringste Aussicht auf Erfolg hat. Aber man schafft damit Märtyrer, schürt den Hass auf die Juden und pflegt den eigenen Opfermythos. Das reichte bislang, um an der Macht zu bleiben.
Zumal es den eigenen Funktionären, den kämpfenden Truppen und den Familien von Terroristen an nichts mangelt. Es gibt in Gaza nichts, was es nicht zu kaufen gäbe. »Die Märkte sind voll. In Gaza bekommen sie so ziemlich alles zu kaufen, vom schicksten Handy bis zu den neusten Unterhosen von Boss. Wer das Geld hat, der kann es sich im Gazastreifen gut gehen lassen. Das Problem ist nur, dass die Masse der Menschen im Gazastreifen verarmt und verelendet ist. Es ist vielleicht kein Elendsgebiet, wie es beispielsweise in Ägypten zu beobachten ist, dafür wird der Gazastreifen von den Vereinten Nationen zu gut versorgt.«, erzählt der deutsche Journalist Martin Durm in einem aktuellen Interview mit dem Schweizer Rundfunk.
Gaza und der IS
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung steigt mit dem Elend der Armen und der Korruption der Eliten. Die Kampfparolen verlieren an Kraft, je offensichtlicher die Aussichtslosigkeit des militärischen Kampfes gegen Israel wird. Ein Jahr »Großer Marsch der Rückkehr« brachte nichts als verkrüppelte oder tote Palästinenser, ein Teil der arabischen Welt ging seither auf Distanz, und die USA strichen die Mittel für die UNRWA, was den Druck von innen noch verstärkt. Wesentliche Unterstützung erhält die sunnitische Terrororganisation heute noch von der Türkei und dem schiitischen Iran.
Vor allem Letzteres hat einen ihrer früheren Kooperationspartner zu ihrem erbitterten Feind gemacht: den Islamischen Staat. In den letzten Jahren hatten sich viele Palästinenser aus dem Gaza-Streifen dem IS angeschlossen, darunter ehemalige Mitglieder der Hamas und des Islamischen Jihad. Entgegen ihren Beteuerungen hat die Hamas eng mit dem IS-Ableger im Sinai zusammengearbeitet, wie das Gatestone Institute berichtet. Der IS half der Hamas, durch die Tunnel unter der Grenze zum Sinai Waffen in den Gaza-Streifen zu schmuggeln, im Gegenzug konnten sich die IS-Terroristen darin frei zwischen Gaza und dem Sinai bewegen. Etliche Gräueltaten des IS gegen ägyptische Zivilisten und die ägyptische Armee dürften auf das Konto dieser Zusammenarbeit gehen.
So gedeihlich die Zusammenarbeit von Hamas und IS für beide Seiten war, friktionsfrei war sie nie. Der IS warf der Hamas die Zusammenarbeit mit Ägypten vor und die Beteiligung an Wahlen, die der IS ablehnt, weil sie das Recht der Menschen über das Recht Gottes stellen würden. Im Jänner 2018 erklärte der IS der Hamas den Krieg: In einem verstörenden Video beschuldigt Hamza al-Zamli die Hamas-Kämpfer, vom Glauben abgefallen zu sein. Al-Zamli stammt aus Rafah, einem Dorf im Gaza-Streifen an der Grenze zum Sinai, und hatte sich drei Jahre zuvor zusammen mit seinen Brüdern dem IS angeschlossen. Im Video beschuldigt er die Hamas, die Palästinenser zu verraten, indem sie Extremisten in Gaza inhaftiert und die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA nicht verhindert habe. Außerdem werde sie vom Iran unterstützt, dem schiitischen Erzfeind. Al-Zamli fordert dazu auf, Mitglieder, Gerichte und Sicherheitspersonal der Hamas sowie Schiiten und Christen in Gaza anzugreifen. Während der quälend langen 22 Minuten wartet Musa Abu Zmat, ein früherer Hamas-Terrorist, mit verbundenen Augen kniend auf seine Hinrichtung. Zmat wird angeklagt, Waffen zu den Kassam-Brigaden der Hamas geschmuggelt zu haben. Am Ende wird er mit einem Kopfschuss hingerichtet.
»Wir wollen leben«
Die Wut der Demonstranten entzündete sich an den ständig steigenden Preisen und Steuern, und sie richtet sich immer mehr gegen die Hamas selbst, gegen die Korruption der Funktionäre und deren offensichtliches Desinteresse am Wohl der Bevölkerung. Obwohl die Hamas mit Schusswaffen und Knüppeln gegen die Protestierenden vorgeht, Journalisten einsperrt und ihnen Todesdrohungen aufs Smartphone schickt, ist es ihr nicht gelungen, die Berichterstattung über die Aufstände zu verhindern.
Martin Durm sagt im bereits erwähnten Interview, die Hamas könne sich noch an der Macht halten, weil sie die Gewehre habe und die Bevölkerung in Schach halten könne. Aber:
Im Gazastreifen gibt es mittlerweile durchaus Konkurrenz zur Hamas, nämlich durch radikalste Islamisten. Es gibt Zweige des Islamischen Staats IS, die vom Sinai her einsickern.
Martin Durm
Die Jugendbewegung bidna naish sei unabhängig, wird berichtet, und sie werde von Teilen der PLO unterstützt. Darüber hinaus wissen wir kaum etwas über die Protestbewegung. Wir wissen auch nicht, in welchem Ausmaß es dem IS gelungen ist, in Gaza Fuß zu fassen.
Nicht jeder Protest ist vom Geist der Freiheit getragen. Und sollte sich in Gaza ein Bürgerkrieg radikal islamischer Gruppierungen abzeichnen, wäre das keine gute Nachricht. Nicht für Israel, nicht für Ägypten und schon gar nicht für die Einwohner des Gaza-Streifens.
»Free Gaza from Hamas!« Wie oft habe ich diesen Satz in Kommentaren oder Social Media schon geschrieben. Er gilt noch immer. Dennoch kommt mir gerade ein altes Sprichwort in den Sinn. »Sei vorsichtig damit, was du dir wünscht. Es könnte in Erfüllung gehen.«
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