Das Problem mit den Fakten
Was irgendwann sichtbar wird, war im Verborgenen fast immer lang unterwegs; oder es wurde übersehen. Das gilt auch für Fake-news, die mit einem Mal in aller Munde sind. Dabei ist der legere Umgang mit Fakten nichts Neues, so wenig wie ihre gezielte Manipulation. Wenn man genau hinschaut, führen Fakten und Fake-news sogar eine heimliche Partnerschaft.
Die beiden gedeihen heutzutage jedenfalls in inniger Wechselseitigkeit. Was des einen Fakt, ist des anderen Fake – und umgekehrt, woraus verwirrende Bilder erwachsen: Wird die Bevölkerung ärmer oder reicher? Brauchen wir Atom- oder Ökostrom? Stellen die vielen Flüchtlinge eine Bereicherung dar oder eine Gefahr? Die differenzierte, richtige Antwort auf viele solcher Fragen wäre: je nachdem, teils-teils!
Doch weil es bei differenziert wahrgenommen Problemlagen zu keiner argumentativen Zuspitzung und Vereinfachung mehr kommen kann, die zu einem gesellschaftlich konventionalisierten Wettstreit geworden sind, schiebt man alles beiseite, was der argumentativen Mittellage entspräche, und sucht sich Fakten, die keinerlei Abwägung erlauben. Im Endeffekt stehen sich reine Argumentationsketten gegenüber, ohne Bezug zur Realität.
Das ist in etwa so, wie es auch privat läuft. Gibt man beispielsweise zu, dass der Ärger des ungeliebten Nachbarn daher rühren könnte, dass man beim Straßenkehren seit Jahren gern mal ein paar Blätter zu ihm hinüber fegt, hat man beim Streit über seine aussäenden Brennesseln keinen guten Stand.
Folglich macht man den Wind für die Blätter verantwortlich – und greift in Fragen der lästigen Unkraut-Flugsaat frontal an! Und siehe, der Nachbar reagiert verstockt wie immer und faselt etwas von ökologischem Brennesseldünger. Zwei Jahre später geht es dann schon um den exakten Verlauf der Grundstücksgrenze: Gutachten bekämpft Gutachten, Klage folgt auf Klage, bis einer einen Herzinfarkt erleidet oder final durchdreht.
Ideologie statt Fakten
Gab es eigentlich eine Zeit, in der das anders war? Gab es eine Zeit, in der man sich an die Tatsachen gehalten hat? Das nachbarschaftliche Beispiel legt nahe, dass Menschen immer schon eher ihrem Gefühl anstatt belastbaren Fakten den Vorzug gegeben haben.
Doch wie verhält es sich im politischen Raum, in dem die Fake-news-Debatte gerade Wellen schlägt? Auch da haben Gefühle natürlich immer eine große Rolle gespielt und sind mittels Statistiken gern in den Rang faktischer Weltdeutung erhoben worden. Aber davon, will es rückblickend scheinen, waren früher die großen Linien betroffen, während man im Detail einigermaßen zueinander finden konnte. Aber da waren die Zeiten auch noch etwas übersichtlicher als heute.
Den entscheidenden Auftrieb beim detaillierten, kollektiven Zurechtbiegen von Fakten hat es durch den Siegeszug der Ideologien gegeben. Was sich Faschisten, Kommunisten und Maoisten im 20. Jahrhundert alles zurechtgebogen und erlogen haben, hat neue Maßstäbe geschaffen. Und davon hat sich unsere Welt noch lange nicht erholt.
Denn seither begnügt sich kaum jemand noch damit, einzelne Fakten gegeneinander abzuwägen, sondern man will sie in größere Zusammenhänge einbinden. Man meint, eine konsistente Weltdeutung in Anwendung bringen zu müssen. Und da spielen Tatsachen in etwa die Rolle von Soldaten im Krieg, die im Dienst einer größeren Sache ohne weiteres geopfert werden können.
Deutungshoheit
Für die verfeindeten Lager ist es von höchster Bedeutung, die absolute Deutungshoheit zu erlangen. Denn wessen Deutung sich durchsetzt, kann entscheiden, was ein Fakt ist und was nicht. Erst dann ist man wirklich Herr der Lage.
Und so muss die ganze Welt in libertäre oder kommunistische, fundamentalistische, hetero- oder homosexuelle Muster gepresst werden, um vor der Gefahr gegenläufiger, augenfälliger, sinnstiftender Tatsachen geschützt zu sein. Das befriedigt den Machthunger und die Sehnsucht, der Welt den Stempel aufdrücken zu können.
Was bei solchen intellektuellen Rundumschlägen auf der Strecke bleibt, ist die virtuose Vielfalt und sinnstiftende Unwägbarkeit des Lebens.
Genau da liegt das Problem mit den Fakten! Und es geht dabei nicht um die Wahrheit, die von sie begleitenden Unwahrheiten immer schon schwer zu trennen war, sondern um die Verhinderung intellektueller, menschheitsgeschichtlich pubertärer Monokultur.