Der American Dream
Auf der Houston Street in New York stand ich letztes Wochenende vor »Katz’s Delicatessen« und überlegte, ob ich überhaupt hineingehen sollte. Alles wird nicht mehr so sein, wie es war, weil nichts viele Jahre später so ist, wie es war. In den achtziger Jahren, als ich in New York lebte, ging ich jede Woche zu Katz. Wenn man das Restaurant betritt, reihen sich links an der Wand Tische hintereinander. Dort kann man bestellen und das Essen wird gebracht. Für die Tische in der Mitte muss man es sich an der Theke holen.
Ich mochte diese Tische an der Wand. Jahrelang kam der selbe Ober, der eine Perücke trug, die ihm jedes Mal verrutscht war, und den Scheitel, der an der Seite sein sollte, teilte in der Mitte des Kopfes das Haar. Katz liegt im ehemaligen jüdischen Viertel von New York, gleich neben der Orchard Street, wo bis vor 10 oder 15 Jahren noch Straßenhändler billige Hemden, Socken und Unterhosen angeboten hatten.
Ich betrat Katz dann doch, und es war wie erwartet deprimierend. Ein paar Touristen liefen herum und machten Selfies vor den Würsten, die hinter der Theke hängen. Immer noch steht der alte Slogan des Restaurants an der Wand: Send a Salami to your Boy in the Army!
When Harry met Sally
»Hier ist der Tisch!«, rief eine Deutsche, vielleicht 50 Jahre alt, rund und schwerfällig mit gefärbten, hellen, blonden Haaren, lief zu einem der Tische und sagte zu ihrem Begleiter, der ihr langsam und zögernd folgte: »Da saß Meg Ryan in dem Film ›When Harry met Sally‹ und spielte, wie sie einen Orgasmus vortäuschen würde. Komm Franz, frag doch den Ober, ob er nicht ein Foto von uns machen kann!«
Ich verließ das Restaurant ohne das übliche Pastrami Sandwich und ging zur Orchard Street. Von jüdischen Straßenhändlern keine Spur mehr. Als ich in New York lebte, zeigte ich sie meinem Freund R., als er zu Besuch kam. Er fand zwischen den Kleiderständen einen Tisch mit Radios und anderen Elektrogeräten und handelte stundenlang mit dem Verkäufer um den Preis eines Autoradios. Er ging ein paar Mal fort und verließ den Tisch empört, weil der Händler nicht nachgab. Der rief ihn wieder zurück und reduzierte den Preis, bis sie sich einigten. R. zahlte und wollte das Radio in seine Tasche stecken, als der Händler sagte, er würde ihm ein Original-Radio, ein ganz neu verpacktes geben, griff unter den Tisch in eine Kiste und gab R. die Schachtel. Als R. sie zu Hause auspackte, war ein Ziegelstein in der perfekt verklebten Schachtel, die wirklich wie neu aussah.
Als ich in die Orchard Street einbiege, sehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite drei Juden mit Peyes und schwarzen Hüten vor einem Hotel mit englischer und hebräischer Aufschrift. Einer geht auf mich zu und fragt mich, ob ich Jude sei. Etwas verwundert antworte ich ihm mit der Frage, warum ihn das interessiere. Es fehle ihnen ein Mann zum Gebet, für den Minjan, sagt er, und als ich ihm erkläre, ich könne weder beten noch die Schrift lesen, meint er, das sei egal, ich möge doch mit ihm kommen, und nur einfach neben den anderen stehen.
Im Keller des Hotels ist ein Gebetsraum mit Stehpulten. Auf jedem liegt ein schweres, schwarz eingebundenes Buch. Die anderen Männer begrüßen mich begeistert, man setzt mir einen Hut auf, die ganze Gruppe beginnt laut singend zu beten, sie wippen mit ihren Oberkörpern vor und zurück und ignorieren mich völlig. Nach zehn Minuten ist die Sache erledigt, sie bedanken sich bei mir, und ich steh‘ wieder auf der Straße.
Einkaufs-Hysterie
Von der Orchard Street sind es nur ein paar Minuten zu Chinatown. Dort gibt es immer noch das »Dumpling House« mit den besten Dim-Sum. Von China-Town zieht sich der Broadway nach Norden, der zu einer Einkaufsmeile für Touristen verkommen ist. Hier hört man deutsch, italienisch und französisch und dazwischen das Englisch der wenigen amerikanischen Touristen. Alles dreht sich um den Preis der Waren. Deutsche kaufen mit Begeisterung Tennisschuhe, T-Shirts und Jeans, weil sie ein paar Euros billiger sind. Aufgeregt mit rot schwitzenden Gesichtern hetzen sie von einem Geschäft zum anderen und wetteifern untereinander mit gefundenen Sonderangeboten.
Den Broadway nach Norden und weiter über die 6. oder 7. Avenue kommt man in den Central Park. Immer noch eine wunderbare Insel der Ruhe in dieser hysterischen Stadt.
Nicht weit vom Karussell, etwa auf der Höhe der 65. Straße, ist das Ballfield Café. Mit ein paar Tischen im Garten vor dem älteren Gebäude, einer winzigen Küche und nur einem Koch aus Mexiko wird dennoch eine komplette Speisekarte mit Salaten, Sandwiches, Hamburger und ein paar Spezialitäten aus Mexiko angeboten. Ich sitze gerne in dem Café, wenn ich in New York bin. Alt und jung trifft sich hier, Touristen und New Yorker, die in den teuren Wohnungen rund um den Park leben.
American Dream
Einer der Tische unter den großen Bäumen war frei, und ich konnte im Schatten sitzen. Zwei junge Frauen, vielleicht Anfang zwanzig, eine mit kurzen rötlichen und die andere mit langen blonden Haaren, bei der man den dunklen Teil der ursprünglichen Haarfarbe auf dem Kopf sehen konnte, sitzen am Tisch neben mir. Sie sprechen ein holprigen, einfaches Englisch, um sich zu verständigen. Die eine hatte einen slawischen Akzent, nennen wir sie A, die andere kam wahrscheinlich aus Südamerika, nennen wir sie B.
A: »Hast du Arbeit?« B nickt.
A: »Wo?« B: »Restaurant.«
A: »Gut bezahlt?« B: »Nein, Boss ein Schwein.«
A: »Alles Schweine.« B nickt.
B : »Hast du Arbeit?« A: »Ich putze.«
B: »Wie ist Chef?« A: »Kein Schwein, ist ok.«
B : »Gut.« A: »Hast du Visum?«
B: »Nein.« A: »Ich auch nicht.«
B: »Wir müssen heiraten.« A: »Ich weiß, ist furchtbar, so schwer, einen zu finden, der einen nicht bescheißt.«
B: »Und teuer!« A: »Ein Schwarzer ist billiger. Geht schon um 2000 Dollar.«
B : »2000! Ein Wahnsinn!« A: »Oder du findest einen mit Kind, dann geht es oft schon um 1500.«
B: »Das ist einen Monat arbeiten.« A: »Ja, aber dann bekommst du nach sechs Monaten Arbeitserlaubnis.«
B: »Willst du zurück?« A: »Niemals!«
B: »Ich auch nicht.«
Spielplatz für Super-Reiche
Auf der Upper East Side, Ecke 75. Straße und First Avenue, treffe ich Freunde zum Abendessen. »2nd Floor« ist ein modernes, koscheres Restaurant, das versucht, die traditionelle jüdische Küche zu modernisieren. Hier gibt es »Gefilte Croquettes« und »Pastrami deviled eggs« und »Duck Plintzes«. Das Restaurant ist bummvoll, und das laute Lachen dieser jungen Generation New Yorker Juden versöhnt mich nach der Depression, mit der ich Katz verließ.
Es gibt es noch, das echte New York, jenseits der Millionäre und der einkaufswütigen Touristen. Es ist nur schwerer zu finden und hat sich mehr und mehr nach Brooklyn verlagert. Nach Bushwick, Flatbush, Greenpoint und in viele andere Gegenden ist das einst pulsierende Manhattan übersiedelt. Schmale Wolkenkratzer werden überall in Manhattan gebaut, mit nur ein oder zwei Apartments in jeder Etage, die nur mehr für eine winzige Minderheit erschwinglich sind.
Dennoch, trotz des Trubels, der Touristen und der Sehenswürdigkeiten, ist New York langweilig geworden. Bürgermeister Bill de Blasio, der sich selbst als einen Sozialisten definiert, hat die Stadt zu einem Spielplatz für Super-Reiche verkommen lassen, die U-Bahn funktioniert nicht mehr, und die Mittelklasse und die Ärmeren sind längst nach Queens, Brooklyn und New Jersey geflüchtet. In Manhattan fehlen die New Yorker, und das spürt man. Immer noch ein tolle Stadt für ein Wochenende, aber dann ist man froh, wenn man sie wieder verlässt, um nicht alle Erinnerungen löschen zu müssen.
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