Die da oben
Nahezu jede übergreifende Vorstellung, die wir uns von der westlichen Gegenwart machen, fußt auf moralischen Defiziten. In den Köpfen spukt es förmlich vom kapitalistischen Bösen, das auf die Natur, das Liebesleben und die Arbeitswelt einwirkt und auch sonst schwersten Schaden anrichtet; zu schweigen vom Übel, das darüber hinaus Menschen in fernen Ländern zugefügt würde. Die Gesamtbilanz des Lebens fällt extrem negativ aus – ungeachtet der Lebensfreude, von der die westliche Gegenwart übervoll ist. Nicht von ungefähr fühlt man sich an den Vorwurf von infamer Regelsetzung und krassester Bevormundung erinnert, den Pubertierende in Richtung ihrer Eltern mit immer noch kindlich-ernster Zwanghaftigkeit erheben: Ihr da oben seid falsch, ungerecht und schlecht! – Menschheitsgeschichtlich befinden wir uns offenbar erst, oder schon, an der Schwelle zum Erwachsenwerden.
Soll doch Noah absaufen!
Parallel dazu findet ein geradezu lachhafter Wettbewerb um maximale moralische Integrität jeder Gruppe und jedes Einzelnen statt – wie um den lückenlos beschwörenden Nachweis zu führen, dass wir trotz des manifesten Bösen in unserer Welt nicht wieder einer biblischen Auslöschung anheimfallen. Nein, diesmal sollen die da oben, die Noahs dieser Welt, die göttliche Rechnung bezahlen! Das Amüsante am kindlich-ernsthaften Ringen um höchste moralische Punktwertung ist die tatsächlich unübersehbare Wiederkehr des Sündflutmotivs in den aktuellen Weltuntergangsszenarien, andererseits die mindestens so naive, damit einhergehende Unterwerfung unter eine Art göttliches Gericht. Noch viel amüsanter ist, dass am moralischen Wettkampf sämtliche gesellschaftlichen Gruppen teilnehmen, in Politik und Wirtschaft, in Kunst und Kultur: was dazu führt, dass eigentlich niemand mehr mit dem Finger auf andere zeigen kann.
Gleich und gleich gesellt sich gern
Gar nicht amüsant ist die hochschießende moralische Rigidität und deren Annäherung an die rigiden Ansichten religiöser Fanatiker – im Natur- und Umweltschutz, in Geschlechterfragen, bei politischen Zielstellungen. Daran wird sichtbar, wie tief die Sehnsucht nach unfreien, umso geregelteren Verhältnissen inzwischen ist. Statt sich in Freiheit jeden Tag neu zu finden und weiter aufs Wagnis angemessenen Handelns einzulassen, zieht man das Freisein von Verantwortung für sich selbst und andere vor. Vorschriften und Sprachregelungen sollen ersetzen, was die Welt an natürlichen Verwerfungen bereithält. – Man verwirft indessen die Natur, wenn man religiös oder moralisch überhöht.
Erzböser Irrtum
Und auch in Bezug auf die behaupteten Bösewichter des vermeintlichen Bösen offenbart sich ein erschreckender Schulterschluss. Denn der gemeinsame Feind aller Rigiden sind die USA und Israel bzw. deren angebliche kapitalistische Umtriebe in Gestalt multinationaler Konzerne auf dem Hintergrund jüdischen Geldes. Über hundert Jahre geht das schon so, der Blödsinn ist nicht aus den Köpfen zu kriegen und zieht von Zeit zu Zeit extrem blutige Spuren! Selbst in Israel und den USA gibt es nicht wenige, die derart simple und grobe, böswillige Ansichten hegen. – Das alles macht frösteln.
Der Marsch der Untoten
Zuspitzungen, egal aus welcher moralischen oder religiösen Quelle sie sich speisen, bedienen sich nicht nur derselben Bilder, sondern münden auch durchweg ins selbe Verderben. Sie sind der Krückstock der Faulen, der Hinterhalt der Feigen, ein Monokel bei Fehlsicht. Nur ist mit solch erlesenem Personal auf Dauer kein Staat zu machen. Die Simplizität moralischer Überspitzung tut ein Übriges: So verführerisch sie sich anfangs auswirkt, so rasch zerbröselt sie unter dem Ansturm von Wirklichkeit. Dann hilft nur erneutes Zuspitzen und der Stich ins Herz all derer, die einen Rest von Realitätssinn bewahrt haben. Es wird nun ein Heer von Untoten regiert, die bei der geringsten Marschbelastung auseinanderfallen. Ihre faulenden Körper jedoch sind der Dung, auf dem irgendwann hartnäckig wieder Blumen sprießen. – Der Marsch der Untoten ist gerade dabei, sich zu formieren…