Eine Frage der Ehre
Wie viel Rückfall in die Vormoderne verträgt die moderne Gesellschaft?
Das dunkelviolette Taschenbuch mit dem in gelben Buchstaben gesetzten Titel ‚Ehre. Archaische Momente in der Moderne‘ steht in meiner Bibliothek bei den Büchern zum Themenkreis Multikulturalität, Migration und Migrationskritik. Es ist ein Sammelband, erschienen schon 1994, der über ein Dutzend wissenschaftliche Aufsätze zu verschied
enen geschichtlichen und kultursoziologischen Erscheinungsformen von ‚Ehre‘ versammelt.
Von den Standesehren früherer Jahrhunderte über das Duell, die Konstruktion ‚nationaler Ehre‘ und die ‚Ehre bei Vaganten, Ganoven, Häftlingen, Dirnen und Schmugglern‘ bis hin zur Frage ‚Der Ehrkomplex im Mittelmeerraum: sozialanthropologische Konstruktion oder Grundstruktur mediterraner Lebensformen?‘
Am aufschlussreichsten sind aber das einleitende und das abschließende Kapitel, in dem alle diese Detailaspekte in den Hintergrund rücken und die Herausgeber Grundsätzliches zum Thema Ehre und zu deren Bedeutungsverlust in der Moderne sagen. Als Kronzeugen werden dabei die großen Soziologen aufgerufen:
Max Weber, der die Zertrümmerung der traditionellen ständischen Ordnung und Kultur durch ein modernes Wirtschaftssystem mit den Worten kommentierte: „Der Markt… weiß nichts von Ehre“.
Georg Simmel, der die Funktion der Ehre in der ständischen Gesellschaft scharfsichtig als eine Form der Normierung des Individuums in der Gemeinschaft erkannte. Die Ehre gewährleiste die Internalisierung der Gruppennormen und trage so zur Selbsterhaltung der jeweiligen sozialen Gruppen bei.
Und schließlich Alexis de Tocqueville, der schon früh die Nivellierung traditioneller Ehrvorstellungen durch die gesellschaftliche Dynamik der Moderne antizipierte:
„Es ist inzwischen tatsächlich so gekommen, wie Tocqueville bereits vor eineinhalb Jahrhunderten vorhergesehen hatte: in der egalisierten, demokratisch verfassten Gesellschaft, in der ‚alle Bürger sich in der gleichen Masse miteinander vermischen und darin in steter Bewegung sind‘, hat Ehre ihr sozial und kulturell spezifisches Profil verloren…“
Kopftuchtragen aus „Ehre und Stolz“
Der Grund, warum ich das Taschenbuch dieser Tage aus dem Bücherregal geholt und wieder darin gelesen habe, ist ein ‚Kommentar der Anderen‘ im Standard, der vor kurzem für einiges Aufsehen gesorgt hat. Die Verfasserin, die türkischstämmige Sozialpädagogin Elif Yilmaz, lieferte darin eine sehr persönliche und emotionale Rechtfertigung des auch von ihr getragenen Kopftuchs, die in dem Satz gipfelte:
Keiner hat das Recht, Ehre und Stolz der Menschen zu verletzen.
Elif Yilmaz
Das Bemerkenswerte an diesem – viele Leser verstörenden – Satz und am ganzen Beitrag von Elif Yilmaz ist, dass sie das Tragen des Kopftuchs in keinster Weise mit religiösen Gründen argumentiert, sondern nur mit persönlichen Befindlichkeiten, „Ehre und Stolz“.
Sie räumt sogar offen ein, dass sie – Ende der 1960er Jahre als Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie in Oberösterreich geboren, hier aufgewachsen und auch hier arbeitend und lebend – bis vor zwei Jahren gar kein Kopftuch getragen habe. Fotos, die vor drei Jahren in der oberösterreichischen Lokalpresse erschienen sind, belegen das auch. Sie zeigen eine westlich gekleidete Sozialpädadogin Yilmaz bei der Arbeit – der Betreuung einer Gruppe von offenbar auch türkischstämmigen Migrantinnen, die allesamt streng geschnürte Kopftücher und dicke Mäntel tragen. Diese Fotos legen den Schluss nahe, dass es kein religiöses Erweckungserlebnis war, das Elif Yilmaz veranlasst hat, nun ebenfalls ein Kopftuch zu tragen (sie erwähnte im Standard bezeichnenderweise auch kein solches).
Viel eher dürften Motive der persönlichen wie kollektiven Identität und Zugehörigkeit entscheidend gewesen sein. Vielleicht war es teilweise auch eine pragmatische Entscheidung, sich mittels Kopftuch an die von ihr betreute Community anzupassen oder man könnte auch sagen: sich an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft in ihrem Arbeitsumfeld zu assimilieren.
In jedem Fall sieht Yilmaz mit Kopftuch und im Mantel – zu sehen auf der Website ihres Arbeitgebers, dem Institut Interkulturelle Pädagogik (IIP) der Volkshochschule Oberösterreich – nicht so aus, als habe sie endlich zu Gott gefunden, sondern mehr so, als würde sie stolz eine Art Tracht tragen.
Kopftuch und Mantel wären damit gar nicht so sehr religiöse, sondern vorrangig identitäre, ethno-kulturelle Symbole, mit denen die Zugehörigkeit zu bzw. die Herkunft aus einer bestimmten Gruppe signalisiert wird.
Von der ständischen zur modernen Gesellschaft (und wieder zurück)
Hier schließt sich auch der Kreis zu den weiter oben erwähnten Soziologen. Denn die von Weber, Simmel und Tocqueville beschriebene linear-fortschrittliche Entwicklung von der ständischen Ordnung über das Industriezeitalter zur hochdynamischen und egalitären Gesellschaft der Moderne, die im Lauf der Zeit immer wieder überkommene Traditionen, Hierarchien und Wertvorstellungen hinwegfegt, ist ins Stocken geraten.
In der Spät- und Nachmoderne kommt es durch die massive Zuwanderung aus vormodern geprägten Kulturen immer häufiger und großflächiger zu Rückfällen in eben diese Vormoderne. Die Gesellschaft als Ganzes ist dadurch keine Gesellschaft mehr, in der – nach Tocqueville – „alle Bürger sich in der gleichen Masse miteinander vermischen und darin in steter Bewegung sind“.
Im Gegenteil: Die Gesellschaft wird, zumindest in Teilen, wieder ständisch, indem große Gruppen von Zuwanderern sich absondern und eine Art neuen Stand bilden. Mit eigenen Sitten, Symbolen und Gebräuchen und auch einer eigenen Standesehre – die damit wieder zentral in die Gesellschaft zurückkehrt und in klassischer Weise dazu dient, die Angehörigen des Kollektivs nach innen zusammenzuschweißen und nach außen hin gegen Kritik und Anfeindungen abzuschirmen.
Bereits Mitte der 1990er Jahre, als die west- und mitteleuropäischen Gesellschaften in sozialer und kultureller Hinsicht noch deutlich homogener waren und auch das eingangs erwähnte Buch über die ‚Ehre‘ erschien, fand sich in der Einleitung dort der lapidare Satz:
„Archaisch-mediterrane Ehrbegriffe sind aus den ‚multikulturellen‘ Schnittstellen des sich vereinigenden Europa nicht wegzudenken.“
Diese Schnittstellen haben sich nach über zwei Jahrzehnten Massenmigration immer stärker zu Bruchstellen entwickelt, an denen Archaisches und Moderne auseinanderstreben und statt Integration immer stärker (vor allem auch selbst gewählte) Segregation stattfindet.
Das Kopftuch ist wohl auch deshalb so umstritten, weil es nicht nur ein religiöses Symbol ist, sondern auch das öffentlich vielleicht sichtbarste Zeichen für diese Rück- und Auseinander-Entwicklung.
Was für ein qualifiziertes Statement.
Ja, die liebe Ehre… Dem Kopftuch als Unterdrückung haben wir doch den „Equal Pay Day“ entgegenzusetzen, die überquellenden Frauenhäuser seit (leider erst) 1976. Es ist echt ehrlos, dass wir unsere Frauen nicht mehr selbst vergewaltigen und schlagen.