Andra und Tatiana Bucci mit ihrem Cousin Sergio, CC BY-SA 4.0
Meglio non sapere. Es ist besser, nicht zu wissen.
Von Karl-Peter Schwarz
»Bauxit«, sagt Licia, »Bauxit«. Ein kalter Wind peitscht den Regen in Kaskaden über die Hochebene, die die Slowenen Čičarija, die Kroaten Ćićarija, die Italiener Cicceria, die Deutschen Tschitschenboden nennen. Es ist eine karge Landschaft aus Kalkfelsen, Dornbüschen und Eichenwäldern auf einem 60 Kilometer langen Gebirgszug zwischen Triest und Rijeka, der die istrische Halbinsel wie eine Mauer vom Hinterland trennt. Weit unten liegen die fruchtbaren, vom milden Klima der Adria verwöhnten Weinberge und Olivenhaine. Auch Marmor und Braunkohle gibt es in Istrien. »Und Bauxit«, wiederholt die alte Dame. Ihre beiden etwa gleichaltrigen Sitznachbarinnen nicken. Drei Zeitzeugen auf der Reise in die Vergangenheit.
Der Nebel reißt auf und gibt den Blick frei auf das tief unten liegende Rijeka (Fiume) und die Inseln der Kvarner-Bucht. Licia schweigt. Tatiana fasst ihre Schwester Andra fest an der Hand. Ihr Herz habe auf einmal ganz heftig geklopft, wird sie später erzählen. Seit die Schwestern im März 1944 deportiert wurden, haben sie die Stadt nur einmal wiedergesehen – 1947, als sie mit ihren Eltern von Triest anreisten, um ein paar Habseligkeiten einzupacken. Gerade erst hatten die Siegermächte in Paris die Grenzen neu gezogen. Was bis zum Ende Ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn gehört hatte und dann an Italien fiel, hieß nun Jugoslawien. Die meisten Italiener gingen.
Andra und Tatiana
Die Schwestern hatten sich gefreut auf ihren ersten Besuch nach so vielen Jahren, gefreut und gefürchtet. »Ich wollte alles mit den Augen meiner Mutter zu sehen«, sagt Tatiana, »ich wollte mich daran erinnern, was sie uns erzählt hatte.« Sogar die verwahrlosten, halb verfallenen Häuser fanden die beiden Schwestern schön. Die kleine Straße hatten sie riesig groß in Erinnerung. Via Milano 15, ein Haus in der Altstadt, auf halber Anhöhe oberhalb des Hafens, steht noch, aber die Straße heißt jetzt anders. Ihr Besuch war den Bewohnern angekündigt worden. Eintreten durften sie nicht. »Eine Frau öffnete ein Fenster. Wir erzählten ihr kurz unsere Geschichte. Sie sagte nur, es sei Zeit, das alles zu vergessen, man dürfe nicht mehr darüber sprechen.«
Andra bemerkte einen alten Gartenzaun, eine kleine Öffnung in einer Mauer und eine Tür. Genauso hatte sie diese Stelle als Vierjährige in ihrem Gedächtnis gespeichert. »Ich habe mich doch richtig erinnert«, sagte Adra später, »es ist wirklich alles wahr. Auf einmal mussten wir beide weinen. Wir sind keine Zwillinge, aber die Bindung zwischen uns ist so stark, als wären wir es.«
März 1944. Tatiana war sechs und Andra war vier, als die Lastwagen vor dem Haus hielten und sie und ihre Mutter abholten. Von den mehr als zweitausend Juden in Fiume – italienische, spanische, ungarische, deutsche, kroatische und serbische – hatten die meisten die Stadt noch vor der Ankunft der Deutschen verlassen können. Die verbliebenen 250 bis 260 Juden wurden deportiert. 26 überlebten – unter ihnen Tatiana, Andra und ihre Mutter Mira. Die Schwestern landeten im Kinderblock von Auschwitz-Birkenau. Zwei Betriebsstörungen in der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie haben sie gerettet: ein Versehen Josef Mengeles und die menschliche Regung einer Wärterin.
»Meine Nummer ist 76483 und die der Tati ist 76484«, erzählt Andra. »Wir sind am Leben geblieben, weil man uns für Zwillinge hielt. Bei der Selektion ist Dr. Mengele dieses Versehen unterlaufen. Er wollte uns für seine Experimente. Dann aber sind sie an uns doch nicht durchgeführt worden. Wir haben wirklich Glück gehabt. Eine ›blockova‹ hatte uns lieb gewonnen, sie gab uns Besseres anzuziehen und Besseres zu essen. Unsere Mutter konnte uns nach der Arbeit besuchen kommen. Wie oft das war, kann ich nicht sagen, unsere Erinnerung besteht nur aus einzelnen Erinnerungsblitzen. Wir wissen auch nicht, ob sie ein, zwei oder drei Monate lang zu uns durfte.«
Wenn sie kam, erzählt Tatiana, habe sie die Kinder immer wieder ihre Namen und Vornamen wiederholen lassen. »Vergesst eure Namen nicht, sagte sie, vergesst eure Namen nicht. Wie ungeheuer wichtig das war, haben wir erst nach dem Krieg verstanden. Ein anderes Mädchen aus dem Kinderblock hat ebenfalls überlebt. Aber bis heute weiß diese Frau nicht, woher sie kam und wie sie heißt, wer ihre Eltern waren. Wir haben unsere Identität nie verloren, wir waren immer Andra und Tatiana Bucci. Andra weiß noch die Nummer auswendig, die sie ihr auf den Arm tätowiert haben, aber ich muss immer erst nachschauen.«
»Eines Abends kam unsere Mutter nicht mehr«, erzählt Andra, »wir haben sie für tot gehalten. Es mag merkwürdig erscheinen, aber wir haben nicht geweint. Das Leben ging weiter. Wir waren von Leichen umgeben. Nichts sprach dafür, dass sie nicht unter diesen Leichenbergen liegen würde. Die Mutter war tot, und das war normal. Eines Tages hat uns die ›blockova‹ davor gewarnt, ja zu sagen, wenn man fragen würde, ob wir zu unserer Mutter wollten. Wir sollten nein sagen. Mit uns war unser Cousin Sergio aus Fiume deportiert worden, er war so alt wie meine Schwester und ein Einzelkind. Als sie dann kamen und uns die Frage stellten, zeigte Sergio auf. Er wurde aus Birkenau weggebracht mit weiteren 19 Kindern, neun Jungen und zehn Mädchen. Die Reise ging nach Hamburg. Es war der einzige Zug mit lebenden Häftlingen, der Birkenau verlassen hat.«
Sergio und die anderen Kinder trafen am 29. November 1944 im Konzentrationslager Neuengamme ein. Sie kamen dort in die »Sonderabteilung Heißmeyer«, wo sie der KZ-Arzt Kurt Heißmeyer mit Tuberkelbazillen infizierte. Den Dienst in der abgeschotteten Baracke versahen russische Häftlinge. Der Arzt injizierte die Bazillen in die Venen oder direkt in die Lungen der Kinder und entnahm ihnen die Lymphknoten an den Achseln. Der Verlauf der Tuberkulose wurde genau dokumentiert, von den verschiedenen Stadien wurden Fotos angefertigt. Am 20. April 1945, als die Alliierten Hamburg erreichten, wurden die Kinder in die ehemalige Schule am Bullenhuser Damm gebracht, wo man ihnen Morphin spritzte und sie anschließend im Keller an Wandhaken erhängte. Das älteste Kind war zwölf Jahre alt. Auch die Pfleger wurden umgebracht. Heißmeyer machte nach dem Krieg in der DDR als Arzt Karriere. Obwohl die Stasi über seine Vergangenheit Bescheid wusste, ließ sie ihn jahrelang unbehelligt. 1966 wurde er verhaftet, ein Jahr später starb er an Herzversagen. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte ihm im Gefängnis noch erlaubt, wissenschaftlich zu arbeiten.
»Von all dem haben wir erst in den achtziger Jahren erfahren«, sagt Andra. »Der deutsche Journalist Günter Schwarberg, der diese Verbrechen enthüllte, hatte es unserer Tante erzählt. Aber sie wollte es nicht wahrhaben. Bis zu ihrem Tod wartete sie darauf, dass es läuten und Sergio vor ihr stehen würde.« Die Schwestern Bucci haben ihre Geschichte niedergeschrieben. Das Buch heißt »Meglio non sapere« – es ist besser, nicht zu wissen.
Licia
Licia Cossetto, pensionierte Lehrerin, wurde einmal von ihren Kollegen angezeigt, weil sie im Unterricht die Geschichte ihrer Schwester erzählte. Vor gar nicht so langer Zeit, sagt sie, sei man in Italien noch der faschistischen Propaganda verdächtigt worden, wenn man daran erinnerte. Licia Cossetto stammt aus Santa Domenica. Das Dorf, das die Kroaten Labinci nennen, gehört zum sogenannten »roten Istrien«, benannt nach der »Terra rossa«, die die Felder glühen lässt, wenn die Sonne im Meer versinkt. Roter Bauxit ist hier aus der Verwitterung des tonhaltigen Kalkgesteins entstanden.
Licias Vater Giuseppe war Grundbesitzer und Eigentümer einer Bauxit-Lagerstätte, Podestà (Bürgermeister) und Ortssekretär der faschistischen Partei. Die Schwestern besuchten ein katholisches Internat in Görz, nur die Ferien verbrachten sie zu Hause. Im Sommer 1943 fuhr die 23 Jahre alte Norma mit dem Fahrrad von Dorf zu Dorf und sammelte Material für ihre Dissertation an der Universität Padua. Unter dem Titel »Das rote Istrien« wollte sie die geologischen Besonderheiten dieses Teils der Halbinsel schildern. Noch herrschte in Istrien Ruhe. Am 25. Juli 1943 hatte der Große Rat des Faschismus Mussolini abgesetzt. Die Zeitungen begannen, vorsichtig Kritik am Regime zu üben. Einige besonders exponierte Faschisten setzten sich ab.
Am 8. September gab Italien den Waffenstillstand bekannt. Am selben Abend schlugen die Deutschen zu. Fast überall ließen sich die italienischen Soldaten widerstandslos entwaffnen. Am 9. wurde Triest besetzt, am 12. der Kriegshafen Pola, am 15. Fiume. Das Landesinnere von Istrien aber blieb der Welle der Gewalt überlassen, die nun von Kroatien über die Italiener hereinbrach. Der Zusammenbruch der italienischen Armee hatte den Partisanenverbänden den Weg nach Westen frei gemacht. In Istrien sammelten sie zurückgelassene Waffen und Munition ein, hissten die kroatische Fahne und etablierten Volksbefreiungskomitees und Volksgerichtshöfe. Buchstäblich über Nacht hatte sich mit der militärischen auch die italienische Zivilverwaltung in Istrien aufgelöst. Der Faschismus hatte jede Art von Opposition unterdrückt, jetzt hatten die Italiener keine politische Vertretung mehr und waren ohne Schutz.
Der Hass der vorwiegend slawischen Landbevölkerung gegen ihre Entrechtung und Italianisierung, die Gewalt und die Schikanen der Faschisten, die Arroganz der Oberschicht und der Städter entlud sich in einer Orgie der Gewalt. Jetzt wurden offene Rechnungen beglichen, Konkurrenten aus dem Weg geräumt, persönliche Gelüste befriedigt, sadistische Neigungen ausgelebt. Es wurde geplündert, gefoltert, gemordet und vergewaltigt.
»Die Partisanen«, erzählt Licia Cossetto, »nahmen sich, was sie wollten. Mitten in der Nacht stürmten sie in unsere Zimmer und schossen über unseren Betten, wir mussten für sie kochen und ihnen zu Trinken bringen. Das ging wochenlang so. Ende September führten sie Norma zum Verhör ab. Sie wollten, dass sie sich als Jugoslawin bekennt. Norma weigerte sich. Zwei Tage später holten sie sie wieder ab, damals habe ich sie zuletzt lebend gesehen. Mein Vater und ein Vetter machten sich auf, um sie zu suchen. Sie kehrten nicht mehr zurück. Auch mich führten sie ab, aber ein ehemaliger Klassenkamerad verhalf mir zur Flucht. Noch in derselben Nacht bin ich zu Fuß nach Triest aufgebrochen.«
Die Partisanen hatten sich ihrer Opfer in den Bauxitgruben und in den Foibe entledigt, den bis zu 300 Meter tiefen und nur wenige Meter breiten Spalten, Klüften und Schlünden im Kalkgestein. Meist banden die Partisanen ihre Opfer paarweise mit Draht Rücken an Rücken aneinander und trieben sie noch lebend in den Abgrund, schossen ihnen nach und warfen dann Handgranaten, um den Zugang zu verschütten. Als sie wieder abzogen, wurde Normas Leiche bei Villa Surani geborgen, einem Weiler nahe der Ortschaft Antignana (Tinjan). Sie hatte noch gelebt, als man sie in die Foiba warf. Ihre Hände waren hinter dem Rücken mit Draht gefesselt, beide Brüste wiesen tiefe Stichverletzungen auf und in der Vagina steckte ein Stück Holz. Eine Zeugin gab an, durch ein Fenster der Schule von Antignana gesehen zu haben, wie sie an einem Tisch gefesselt der Reihe nach vergewaltigt wurde, angeblich von 17 Partisanen. Stundenlang habe sie ihre Schreie gehört.
Die Ermittlungen endeten mit der Festnahme von sechs Männern, die eine Nacht lang mit der verwesten Leiche Normas in die Begräbniskapelle eines Friedhofs gesperrt und am nächsten Morgen erschossen wurden. Das Martyrium Norma Cossettos wurde von der faschistischen Propaganda breit ausgeschlachtet. Der Terror vom Sommer 1943 war ein Vorspiel zu der Generalabrechnung im Mai und Juni 1945. Mafalda Codan, eine Freundin der Cossettos, schleppten die Partisanen damals wochenlang von Dorf zu Dorf, wo sie als »Volksfeindin« von der Menge bespuckt und verprügelt wurde. In Santa Domenica holten sie Normas Mutter aus dem Haus und zwangen sie, die Folterung mit anzusehen.
Rijeka, Birkenau, Santa Domenica. Meglio non sapere. Es ist besser, nicht zu wissen.
Zuerst erschienen auf Kairos Blog
Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER!
Über diesen Beitrag auf Facebook diskutieren
Über den Autor:
Karl-Peter Schwarz, geboren 1952 in Villach, arbeitete als Auslandskorrespondent in Rom für den ORF, in Prag für die ›Presse‹, die ›Welt‹ und die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹. Zuletzt berichtete er siebzehn Jahre lang exklusiv für die F.A.Z. über Ostmittel- und Südosteuropa. Er lebt als freier Publizist in Wien, Villach und Sovinjak (Istrien).