Seien wir nicht die »nützlichen Idioten« des dschihadistischen Terrorismus![1]
Von Jean-Luc Vannier
Das weitverbreitete englische Sprichwort don’t judge a book by its cover gilt für Die Wütenden nicht; schmerzlich genau ist der Gehalt des von Fabian Reicher und Anja Melzer verfassten und im Westend-Verlag erschienenen Buchs von der Gestaltung seines Umschlags vorgezeichnet. Dieses soll mir daher auch als Ausgangspunkt zur Rezension dienen.
Die bedrohliche Silhouette eines mit Messer bewaffneten jungen Mannes auf nächtlicher Großstadtseitenstraße versucht dem düsteren Thema, dessen sich das Buch annimmt, gerecht zu werden.
Es ist in der Tat ein düsteres Thema, denn es geht um die Lebensgeschichten von fünf in Österreich lebenden radikalisierten Jugendlichen, anhand derer die Autoren – hauptsächlich Fabian Reicher – versuchen, eine Methode zu entwerfen, um junge Menschen, die dem Dschihadismus zuneigen, zu deradikalisieren. Dass die Szene allerdings im Stil ihrer graphischen Gestaltung in erster Linie an das Cover eines Comic Buchs erinnert, auf dem sich der reißerische Untertitel »Ein Streetworker berichtet« wie eine punch line liest, nimmt meine letztendliche Enttäuschung über das Versäumnis einer angemessenen Thematisierung dieses hochgradig komplexen Themas vorweg.
Ganz allgemein ist die Haltung des Hauptautors gegenüber dem behandelten Thema durch stetige und in alle erdenklichen Richtungen sich erstreckende Schuldzuweisungen geprägt: die Prädominanz der Weißen, der Staat, die Polizei, die Autorität, die USA, die NATO, die Kolonialisierung Algeriens, die Invasion in Afghanistan, die westliche Kultur, sogar der aktuelle französische Präsidenten Emmanuel Macron.
In Anbetracht dieser schier endlosen und an keiner Stelle hinreichend begründeten Liste Schuldiger stellt sich die Frage, ob es sich hierbei nicht um die Projektionen anderweitig gerichteter Wut handeln könnte, ähnlich der auf äußere Objekte projizierten Gefühle beim Phänomen der Paranoia. Ist Reicher vielleicht selbst der Wütende? Und das vorliegende Buch vielleicht nichts als eine persönliche Abrechnung, der Versuch einer Selbsttherapie? Über die Ursprünge dieser universellen Rage erfahren wir, abgesehen von einigen vagen Allusionen auf guevaristisch-geprägte Jugenderinnerungen, nichts.
Wahrscheinlich ist sich der Autor ihrer auch nicht bewusst. Doch vor allem dann, wenn eine Person den Anspruch stellt, anderen Menschen Hilfe leisten und sie beratschlagen zu können, ziehen ungelöste unbewusste Probleme die Integrität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient in Zweifel.
Auch die Aufarbeitung der historischen Ereignisse ist durch zahlreiche Anachronismen verzerrt: ohne jegliche methodologische Richtlinie verschmelzen die islamische Revolution im Iran, das Massaker von Srebenica, der Irakkrieg, das tragische Schicksal von Sophie Scholl oder auch der israelisch-palästinensische Konflikt zu einem manischen Amalgam. Unter dem Vorwand der Wahrnehmung dieses Ereignisses durch radikalisierte Jugendliche offenbart sich seine eigentliche Ambivalenz gegenüber dem Thema in der Aufarbeitung der Anschläge auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001, denen er kaum zwei Zeilen schenkt, wogegen ihre Konsequenzen in einem ganzen Absatz und mit ähnlicher Faszination behandelt werden wie in den Gedankengängen junger Radikalisierter.
Ungeachtet einiger – sehr seltener – klarsichtiger Momente, die den eigentlichen Kampf im Inneren verorten[2], übernimmt der Autor das reflexive Schema eines »Rechtfertigungsnarrativs« und validiert dadurch einen Großteil der Argumentation radikalisierter Jugendlicher, insbesondere in Bezug auf die zur-Radikalisierung drängende vermeintliche Ungerechtigkeit.[3]
Die gesamte selbstrechtfertigende Dimension des Diskurses, der den Radikalisierten eine für sie und andere akzeptable Darstellung ihres Engagements für den Dschihad liefert, bleibt ihm verborgen. Dabei wissen wir, dass »Wer nach Gerechtigkeit dürstet, auch gegen das zürnt, was ihn von innen heraus angreift, gegen den Folterer in sich selbst.«[4]
Und wie wir in einer anderen Studie über den dschihadistischen Terrorismus hervorgehoben haben: »Für den Täter muss die Außenwelt zur Rechenschaft gezogen werden, denn in der Vorstellung des islamistischen Terroristen ist diese Außenwelt für die Missetaten (Häresie) verantwortlich. Auf diese Art erhält er eine Rechtfertigung für seine Tat.«[5]
Auf ähnliche Weise dient ihm der – an sich völlig gerechtfertigte – Vorwurf fehlender Gesprächsbereitschaft mit radikalisierten Jugendlichen dazu, ein »Verstehen« zu propagieren – und verstehen im Sinne von Madame de Staël »ist vergeben« – mithin das bequeme Vergeben auch der brutalen Ermordung Samuel Patys, eines Lehrers, der seinen Schülern die Mohammed-Karikaturen der Zeitschrift Charlie Hebdo gezeigt hatte, ohne dabei aber die ganze hasserfüllte Mechanik der sozialen Netzwerke und den archaischen Obskurantismus der Propaganda zur Verantwortung zu ziehen, die die schuldige Hand lenkten.
Ein weiterer Abschnitt über die Adoleszenz und ihre Leiden exemplifiziert eine Argumentationsstrategie, die von mangelnder Kenntnis über die klinischen Aspekte der Pubertät gezeichnet ist. Der Meinung des Autors nach seien Jugendliche stärker zur Kriminalität geneigt, da sie um ihre eigene Autonomie kämpfen und ihre eigene Persönlichkeit entdecken wollen. Damit verwischt er allerdings die Differenz zwischen den Taten von Verbrechern mit dem Agieren – acting out – das für Jugendliche typisch ist und das D.W. Winnicott[6] »versteckte Forderungen« an eine Autorität nennt, sich ihnen gegenüberzustellen und ihnen ihre eigenen Grenzen aufzuweisen.[7]
Der Versuch, radikalisierten Jugendlichen durch eine »intersubjektive« Sprache beizukommen (S. 38, 81), zeigt ein weiteres Versäumnis des Autors; denn was die Jugendlichen für die dschihadistische Propaganda anfällig macht, ist gerade eine vorangehende psychische Subversion.[8]
In unserer oben genannten Studie äußerten wir bereits Zweifel an Entradikalisierungsversuchen, die auf einem rein kognitiven Ansatz beruhen und bestrebt sind, den Einzelnen in seiner Willenskraft und Realität, das heißt, in seinem Ich zu beeinflussen. Das Argument der Sinnlosigkeit des Dschihads hat schlichtweg kein Gewicht, denn »Die Sinnhaftigkeit wird vom Trieb des Täters ignoriert.[9]
Kaum überraschend sind auch die angebotenen Ergründungsversuche nicht mehr als tarte à la crèmeder Klatschmagazin-Psychologie und Billigphilosophie: die Radikalisierung würde einen »Sinn«, eine Identität durch Zugehörigkeit liefern – anscheinend sogar in dem Maß, dass sich der Autor selbst dem Ruf danach anschließt: »wir alle kennen solche Phasen« (S. 39). Über klinische Aspekte verliert er hingegen kein konkretes Wort, weder über seine Art der Durchführung einer »Therapeutischen Behandlung« (S. 102), noch über seine »Pädagogik der Wütenden« (S. 215).
Der Autor hinterfragt »die Entfremdung von der Gesellschaft« (S. 50) nicht richtig und verkennt die kindliche Art, in der ein Radikalisierter die Frage nach den Gründen »seiner Unerreichbarkeit von Erfolg, Macht und Reichtum« auslegt, sowie dessen Fixierung auf die Allmacht seiner Gedanken und Gefühle – das magische Denken des Kleinkindes –, die zweifellos durch den Hyperkonsumerismus befeuert wird.
Auch die unbewusste psychische Signifikanz des Wunsches, »ein echter Mann, ein furchtloser Löwe… eine Kalaschnikow in der Hand« zu sein, lässt der Autor – trotz eklatant sich-zu-erkennen-gebender sexueller Fantasie – unhinterfragt.
Das beste Beispiel für den unbewussten Charakter der Radikalisierung, auch wenn der Autor es nicht zu sehen versteht, ist auf Seite 104 zu finden: Trotz der Möglichkeit, nach Saudi-Arabien zu gehen und dort den wahren Islam zu erleben, kann einer der radikalisierten Jugendlichen letztendlich nicht anders, als zwanghaft daran zu denken, als Märtyrer für den Islamischen Staat zu sterben.
Auf dem Umschlag des Buches finden wir eine Art Exegese des Titels: »Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen.« Eben diese Radikalität ist es, die als Leitmotiv für diese Studie hätte dienen sollen: die Radikalität der aufs Ganze des Radikalisierten gehenden Weise, in welcher der Terrorismus ihn verpflichtet und der Radikalität des Triebes ein Pendant darstellt – die Radikalität des Triebs, die in geistiges Chaos und psychischen Zerfall mündet; die Jugendliche, die sich auf dem Weg zur Radikalisierung befinden, nicht bändigen können; die sie zu einer Destruktivität drängt, die ebenso radikal wie absolut ist.
Interessant wären außerdem tiefergehende Reflexionen über die fundamentalen, binären Oppositionen zum Anderen gewesen, zum Bild des Mitmenschen, das Radikalisierten in dem Maß unerträglich[10]ist, wie es – nach Jacques Lacan in Anlehnung an die Freudsche Theorie – für die durch Spiegelbilder erfolgende Konstruktion, Stade du miroir – des Subjekts grundlegende Identifikationen in Frage stellt.[11]
[1] Apokryphes Zitat von Lenin. Der Ausdruck tauchte in den 1940er Jahren in den USA auf und bezeichnete ursprünglich westliche Sympathisanten des Kommunismus, die aus Naivität und oft in gutem Willen, aber ohne viel kritischen Sinn die Propaganda der UdSSR übernahmen und verbreiteten.
[2] »Es ist wichtig, Rechtfertigungsnarrative zu dekonstruieren« (S. 59) behauptet der Autor, tut es aber nicht. Oder auch »andere missbrauchen Gott oder Ideale wie Freiheit oder Gerechtigkeit, um ihre Taten zu rechtfertigen« (S. 120).
[3] »Was er dafür brauchte, war Empathie für seine eigenen Opfererfahrungen…« (S.60) oder »Ihre Wut ist berechtigt, bei all der Ungerechtigkeit, die es in der Welt gibt» (S. 217). Wie könnte der Jugendliche mit einem solchen Argument im Hinterkopf also nicht davon ausgehen, dass er sich in einem Zustand der Selbstverteidigung befindet?
[4] Jean Laplanche, Responsabilité et réponse, Entre séduction et inspiration: l’homme, PUF, coll. »Quadrige«, 1999, S.177.
[5] Jean-Luc Vannier, Psychoanalytische Überlegungen zum Dschihadistischen Terrorismus. Von der Selbstbestrafung zur Selbstzerstörung, Dynamische Psychiatrie, Mattes Verlag, Vol. 53 (2020), Heft 2-3 (n°299-300).
[6] D. W. Winnicott, Conversations ordinaires, Folio essais n°438, 2004, S.130-144.
[7] Was die Antwort eines Richters an einen radikalisierten Jugendlichen verdeutlicht (S. 83), auch wenn der Autor die Bedeutung nicht einschätzen kann.
[8] Und dessen Mechanismus im französischen Gesetz Nr. 4104 vom Juni 2021 über »die Prävention terroristischer Handlungen und die Nachrichtendienste« erläutert wird.
[9] Jean Laplanche, Réparations et rétributions pénales, La révolution copernicienne inachevée, PUF, Coll. »Quadrige«, 2008, S. 176.
[10] « Der Staat hasst Muslime » oder « Der Western versus die Umma » oder noch « Wir und die Anderen » werden reichlich wiederholt, ohne dass es jemals richtig interpretiert wird.
[11] « Angriffslust ist die korrelative Tendenz eines Identifikationsmodus, den wir narzisstisch nennen und der die formale Struktur des menschlichen Ichs und des Entitätsregisters, das für seine Welt charakteristisch ist, bestimmt ». Jacques Lacan, L’agressivité en psychanalyse, Revue française de psychanalyse, 1948, S.375.
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