DER ZAUN HAT ZWEI SEITEN

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Photo: Gilad Shalit mit Vater, IDF, CC BY-SA 2.0

Der vergessene Protest

Seit Monaten berichten die internationalen Medien ununterbrochen von den »friedlichen Demonstrationen« der Palästinenser in Gaza auf ihrer Seite des von Israel errichteten und kontrollierten Grenzzauns. Wir wissen inzwischen um die angezündeten Autoreifen, die Toxine, die dabei frei wurden, um die bei der Verteidigung des Zauns umgekommenen Menschen, seien es Hamas-Aktivisten oder Zivilisten. Wir wissen auch um tausende Feuerdrachen und Ballons, die in Israel inzwischen täglich Flächenbrände erzeugen. Die Bilder findet jeder, der sie sehen will, in der einen oder anderen Form in den einschlägigen Medien.

Doch eine Demonstration am Zaun von Gaza scheint in der internationalen Presse und den sozialen Medien absolut keine Beachtung gefunden zu haben: die Demonstration von etwa 4.000 Israelis mit Flaggen und blauen Drachen mit Friedens-Nachrichten für die Herausgabe der Leichname der im Konflikt 2014 getöteten Soldaten Hadar Goldin und Oron Shaul, die von der Hamas bis heute als Geiseln gehalten werden. Zudem befindet sich auch ein israelischer Zivilist namens Abraham Mangisto seit nun bald vier Jahren in den Händen der Hamas in Gaza.

Für die UNO belanglos

Dieses Thema wollte Israel in der Versammlung des UN Economic and Social Council (ECOSOC) vom 24. Juli diesen Jahres in New York einbringen, in welcher man Israel mal wieder für so ziemlich alles verurteilt hatte, was irgendwie mit den Palästinensern in Zusammenhang gebracht werden konnte. Israel wollte die anstehende Resolution mit einem Passus ergänzen, wonach die Hamas dazu aufgefordert würde, die Überreste der beiden Soldaten und den israelischen Zivilisten endlich herauszugeben.

Die Einfügung des Passus wurde abgelehnt. Lediglich die USA, Mexico, Kanada, Kolumbien und Uruguay hatten sie unterstützt. Alle EU-Mitgliedstaaten hatten vorgezogen, sich in dieser Frage zu enthalten. Die Resolution gegen Israel wurde mit 45 zu 2 Stimmen (welche wohl leicht zu erraten sein dürften) angenommen.

Das Ziel der Hamas

Israelis sind für die Hamas, tot wie lebendig, nichts anderes als eine Trumpfkarte. Das ist mit einer der Gründe für das unermüdliche Buddeln von Tunneln. Allzu gerne würde man sich noch ein paar Israelis schnappen, um sie dann durch ein Netz von unterirdischen Geheimgängen auf Nimmerwiedersehen in Gaza verschwinden zu lassen. Wobei – Nimmerwiedersehen ist nicht ganz korrekt. Diese Israelis wurden und werden für einen einzigen Zweck festgehalten: Zur Freipressung von in israelischen Gefängnissen inhaftierten Palästinensern.

Das Dilemma

Diese Tatsache stellt die israelische Gesellschaft wie auch die Regierung vor ein schwieriges Dilemma.
Soll man mit Terroristen überhaupt verhandeln?
Kann man die Familien der Festgehaltenen so im Stich lassen?
Was sagt man den Angehörigen der damaligen Opfer dieser inhaftierten Menschen?
Was sagt man den Angehörigen der neuen Opfer durch einen freigelassenen Terroristen?

Dass es sich hier nicht nur um theoretische Probleme handelt, zeigen Beispiele aus der Vergangenheit:

Die israelischen Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev wurden im Juli 2006 in Israel, nahe der libanesischen Grenze, von der Hisbollah umgebracht und in den Libanon verschleppt. Diese Aktion auf israelischem Boden war einer der Mitauslöser des zweiten Libanon-Kriegs. Es dauerte zwei Jahre, bis die Familienangehörigen jeweils eine Kiste mit Knochen bekamen und diese zu Grabe tragen konnten. Im Gegenzug musste Israel eine Reihe von wegen »Blut an ihren Händen« verurteilten Hisbollah-Mitgliedern freilassen, darunter auch den zu mehrfach lebenslänglich verurteilten Samir Kuntar. Dieser war im April 1979, im Alter von 16 Jahren, Schlüsselfigur einer der abscheulichsten Anschläge in der Geschichte Israels gewesen.

Zunächst brachte Kuntars »Team« einen israelischen Polizisten um und versuchte dann, eine ganze israelische Familie zu entführen. Nach Eindringen in deren Haus in Nahariyya verschleppte er den 31-jährigen Familienvater und die 4-jährige Tochter an den Strand von Nahariyya, wo er den Vater aus kurzer Distanz mit seinem Gewehr in den Rücken schoss und anschließend den Kopf der 4-jährigen Tochter, Einat war ihr Name, wie einen Golfball mit seinem Gewehrkolben an einen Strandfelsen schlug und ihr damit den Schädel gebrochen hatte.

Die Tatsache, dass der freigepresste Samir Kuntar nach seiner Rückkehr in den Libanon dort öffentlich wie ein Volksheld gefeiert wurde, hinterließ nicht nur bei den Angehörigen der Familie aus Nahariyya Bitterkeit, sondern beim größten Teil der israelischen Bevölkerung. Mir selbst ist beim Schreiben dieser Zeilen übel. Nach seiner Freilassung wurde Samir Kuntar während des syrischen Bürgerkriegs zum verantwortlichen Hisbollah-Führer der Gegend um Quneitra, unweit der israelischen Grenze, von wo aus er Angriffe auf israelische Ziele plante. Offensichtlich spielte er auch eine wesentliche Rolle beim Aufbau der syrisch/iranischen Militärstützpunkte auf der syrischen Seite des Golan. Im Jahre 2015 kam er in Syrien bei einer Explosion ums Leben.

Gilad Shalit wurde im Juni 2006 auf israelischer Seite des »Kerem Shalom« Grenzübergangs nach Gaza entführt und durch einen der Tunnel, wie ihn auch Jürgen Todenhöfer für seinen Besuch in Gaza genutzt hatte, verschleppt. Jahrelang bekam man auf israelischer Seite noch nicht mal einen Lebenszeichen von ihm. Dem Roten Kreuz und anderen humanitären Organisationen blieben jeglicher Kontakt und jegliche Information über Shalit, der bereits vor seiner Verschleppung gesundheitliche Probleme hatte, verwehrt. Auch die französische Regierung, die sich mehrfach um Informationen bemüht hatte, da es sich bei Shalit auch um einen französischen Staatsbürger handelte, kam keinen Schritt voran und stellte ihre Bemühungen schließlich ein.

Seine Familie wurde nicht müde, ihren Unmut über die Untätigkeit der israelischen Regierung zum Ausdruck zu bringen. Sie organisierte Demonstrationen, führte Gespräche mit Regierungsmitgliedern, campierte in Zeltlagern vor dem Regierungssitz und generierte über die Jahre steigenden Druck innerhalb der israelischen Bevölkerung, um endlich überhaupt über eine Freilassung von Gilad Shalit, von dem man noch nicht einmal wusste, ob er noch am Leben war, zu verhandeln.

Schlussendlich kam er im Oktober 2011, über fünf Jahre nach seiner Entführung, im Austausch gegen 1.027 in Israel inhaftierte Palästinenser frei. Von diesen verbüßten 280 Terroristen lebenslängliche Gefängnisstrafen für die Planung und Ausführung verschiedenster Terrorangriffe auf israelische Ziele. Der damalige Anführer der Militäreinheit der Hamas erklärte, dass die Freigelassenen kollektiv für den Tod von insgesamt 569 israelischen Zivilisten verantwortlich gewesen wären.

Der so genannte »Shalit-Deal« war eines der meistdiskutierten Ereignisse, das die israelische Bevölkerung je bewegt hat. Noch nicht einmal die Räumung von Gaza hat die Bevölkerung so gespalten wie dieser Austausch. Und die Auswirkungen sind bis heute zu spüren: Nach Schätzung eines hochrangigen Sicherheitsbeamten haben, so ein Artikel in der israelischen Zeitung Israel HaYom vom Januar 2018, etwa 40 Prozent ihre terroristische Tätigkeit nach der Freilassung wieder aufgenommen. Sieben Israelis haben seit dem Austausch nachweislich durch freigelassene Terroristen ihr Leben lassen müssen, darunter die drei israelischen Teenager, die zu Beginn des Gaza-Konflikts im Jahr 2014 entführt und umgebracht wurden – eine Aktion, dievom freigelassenen Mahmud Qawasme initiiert und geplant worden war.

Ein weiterer der damals freigelassenen Terroristen mit Blut an seinen Händen, der wegen der Entführung und Ermordung zweier Soldaten im Jahre 1988 zu zweifach lebenslanger Haft verurteilt worden war, ist Yahya Sinwar– seines Zeichens nicht mehr und nicht weniger als der aktuelle Oberbefehlshaber der Hamas in Gaza.

Wenn man heute also die diversen Spaltungen innerhalb der israelischen Bevölkerung beklagt, dann sollte man sich vielleicht vor Augen halten, inwieweit diese mit ein bisschen mehr Unterstützung durch internationale Gremien – wie etwa die UNO oder die EU – hätten verringert werden können. Israel steht nämlich seit mehr als vier Jahren wieder vor einem ähnlichen Problem. Aber es scheint, als gäbe man stumpfen Verurteilungen den Vorzug vor tatsächlicher Unterstützung zur Besserung der Lage. Auf beiden Seiten des Zauns.

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Über den Autor / die Autorin

Alexandra Margalith

Alexandra Margalith hat in München Rechtswissenschaften studiert, ist in Israel als Anwältin und Notarin zugelassen und hat sich in einer Kanzlei in Tel-Aviv mehr als 13 Jahre intensiv mit deutsch-israelischen Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen befasst, davon 7 Jahre als Partnerin. Sie befasst sich intensiv mit dem Nahostkonflikt und dem Antisemitismus in Europa, lange vor dem Holocaust bis heute, und verfolgt dazu die hebräische, deutsche, englisch- und französischsprachige Presse.
Seit 2012 lebt Frau Margalith aus beruflichen Gründen mit ihrem Mann in Irland.