Plötzlich interessiert es die Briten nicht mehr
Noch vor zwei Jahren, als ich in Guildford lebte, einer Universitätsstadt südlich von London, gab es kein zweites Thema, dass die Briten mehr beschäftigte als Brexit. Selbst in unserem Tennis-Klub, wo sich die Männer Mittwoch und Freitag vormittags zu Doppel-Spielen trafen und anschließend im Klubhaus bei Tee, Kaffee und Keksen über Alles und Nichts sprachen, endeten Diskussionen über den Ausstieg aus der EU in wilden Streitereien – ganz unüblich in dieser Gesellschaft, die sich nicht einmal darüber aufregte, wenn einer der älteren Spieler zum dritten Mal einen Ball als ›out‹ erklärte, selbst wenn er einen halben Meter innerhalb des Spielfeldes landete.
In einem anderen Tennis-Klub in der Nähe von Richmond, wo ich manchmal am Wochenende spielte, löste der Brexit-Streit sogar den Streit ab, ob Sonntagnachmittag immer noch um 16.00 Uhr eine Glocke alle Spieler und Spielerinnen auffordern sollte, die Spiele zu unterbrechen, da Tee und Kuchen im Klubhaus vorbereitet wurden. Die älteren Mitglieder/Innen bestanden auf die Fortsetzung dieser Tradition, während die Jüngeren ihr Spiel einfach fortsetzen wollten. Darüber wurde ein Jahr lang diskutiert, bis Brexit dieses so wichtige Thema ablöste. Die unterschiedlichen Meinungen zu Brexit gingen quer durch alle politischen Überzeugungen. Konservative und Sozialdemokraten konnten sich innerhalb ihrer Parteien nicht zu einer einheitlichen Linie verständigen, da jeweils die Hälfte der Tories und Labour den Austritt unterstützte und die andere Hälfte das Verbleiben.
Jetzt scheint alles anders zu sein. Letzte Woche schloss der Moderator der wöchentlichen Presseschau auf BBC, Andrew Marr, die Sendung mit den Worten: »Jetzt kommt eine erstaunliche Feststellung. Unser Programm läuft seit 13 Minuten und bisher habe ich das Wort Brexit noch kein einziges Mal ausgesprochen.« Die Briten interessiert es plötzlich nicht mehr. Vor zwei Jahren meinten noch 50 Prozent der Befragten, Brexit sei das wichtigste Thema. Heute sind nur mehr 2 Prozent dieser Meinung.
Natürlich hat die Pandemie den EU-Austritt vom ersten Platz verdrängt. Ein derartiges Desinteresse hat allerdings auch andere Gründe. Zulange inszenierte sich die Regierung der Konservativen als trotzige Alternative zur EU, vor allem gegenüber den mächtigen Mitgliedern Deutschland und Frankreich. Ständig wiederholte Drohgebärden, Großbritannien würde auch ohne Vereinbarung austreten und neue Verträge mit China, der USA, Kanada und Australien abschließen, beeindrucken niemanden mehr. Die Wahlniederlage von Trump, einer der aggressivsten Unterstützer des Austritts, brachte weitere Probleme, so dass Premierminister Boris Johnson letzte Woche beschloss, seinen Chef-Berater und Erfinder der Brexit-Strategie, Dominic Cummings, und den Kommunikationschef Lee Cain einfach zu feuern.
›No Deal‹ ist weg vom Tisch
Nun war Dominic Cummings nicht irgendein Berater unter vielen. Er hatte zwar keine Funktion im Kabinett, galt dennoch als der gerissene, intelligente und einflussreichste Einflüsterer Boris Johnsons. Er war maßgeblich für den Erfolg der ›Vote Leave‹ Kampagne verantwortlich, die eine propagandistische Meisterleistung war. Ohne Rücksicht und Beweise garantierten die Organisatoren der EU-Abstimmung der Bevölkerung einen wahren Geldregen, falls Großbritannien die EU verlassen würde, und rührten die nationalistische Trommel mit Versprechungen.
Unabhängigkeit von Brüssel, Schließung der Grenzen gegenüber Flüchtlingen, Verbot für ausländische Fischerboote in UK-Gewässern und Abschiebung illegaler Asylanten nach UK-Recht und nicht EU-Bestimmungen. Höhepunkt der Missinformation war die Behauptung, den Betrag, den Großbritannien nicht mehr als Beitrag an die EU zahlen müsste, direkt in das marode Gesundheitssystem fließen zu lassen. Eine Lüge, für die sich die Organisatoren wenige Wochen nach der gewonnenen Abstimmung entschuldigen mussten.
Die Sprache der Britischen Regierung hat sich jetzt – kurz vor Ablauf der Übergangsfrist – merklich geändert. Bis Ende des Jahres ist noch Zeit, zwischen EU und Großbritannien einen Handelsvertrag abzuschließen, wie er mit Kanada oder Australien existiert. Bisher – unter dem Einfluss von Cummings – hatte Johnson immer wieder erklärt, ein ›No Deal‹ würde ihn nicht erschrecken, falls es bis 31. Dezember zu keiner Einigung mit der EU komme. Das Land sei darauf vorbereitet, betonte Johnson, und auch Trump versicherte, falls alle Verhandlungen scheiterten, würde die USA Großbritannien bei einem ›No Deal‹ entsprechend unterstützen.
Jetzt gibt es Trump nicht mehr, und die Briten lassen sich mit Hurrah-Meldungen zu Brexit nicht mehr begeistern. Plötzlich spricht auch niemand mehr von unlösbaren Problemen wie die Grenze zwischen Nord-Irland und dem EU-Mitglied Irland, den Fischereirechten, dem Zugang zu britischen Universitäten für EU-Studenten, Vergütung der Mehrwertsteuer, Zollzuschläge für Güter aus der EU, Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für EU-Bürger in Großbritannien und viele andere Themen, die bisher wie unüberwindbare Hürden die Verhandlungen belasteten.
Nach Abgang von Cummings zeigte sich Boris Johnson optimistisch, dass bis Jahresende ein Handelsvertrag abgeschlossen werden könnte. Der aggressiven Rhetorik der Vergangenheit wich eine sachliche Verhandlungstaktik. Der Populismus, den Johnson von Trump übernahm, und der seinem liberalen Stil, den er als Londoner Bürgermeister vertrat, widersprach, ist plötzlich Geschichte. Johnson agiert mit einem ›weichen Touch‹, kompromissbereit und verständnisvoll. Der britische Brexit-Unterhändler David Frost sprach sogar von Fortschritten bei Verhandlungen über einen Handelspakt.
Ein ›Sir‹ als Labour Chef
Als zusätzliches Problem wird Johnson mit einem neuen Oppositionsführer konfrontiert, der einen anderen Stil zeigt als sein Vorgänger Jeremy Corbyn, dessen Unbeliebtheit den Konservativen den Wahlsieg praktisch in den Schoß legte. Keir Stramer, der neue Chef der Labour Party, ist von einem anderen Kaliber. Der Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers gewann ein Stipendium für Oxford und wurde einer der erfolgreichsten britischen Anwälte. 2003 ernannte ihn die Regierung zum Menschenrechtsberater der Polizeibehörde von Nord-Irland, 2008 bis 2013 zum Direktor der Britischen Staatsanwaltschaft und 2014 verlieh ihm die Königin den Titel ›Knight Commander des Order of the Bath‹, und ernannte ihn zum ›Sir‹. Seine Selbstsicherheit bewies er mit der in anderen Parteien kaum vorstellbaren Entscheidung, den Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn wegen Antisemitismus aus der Partei zu werfen.
Sir Keir Stramer als Chef der Britischen Sozialdemokraten scheut keine Auseinandersetzungen mit dem rhetorischen Genie Boris Johnson. Während der Debatten im Britischen Parlament, die direkter und spontaner ablaufen als im Monolog-Parlament in Wien, drängte er Johnson immer wieder in die Defensive. Der enorme Vorsprung der Konservativen, die im Parlament mit 80 Abgeordneten eine sichere Mehrheit haben, schmolz in den letzten Monaten dahin. Derzeit liegen beide Parteien bei etwa 39 Prozent, die Liberalen bei 7 Prozent.
Keir Stramer spricht nicht mehr über Brexit. Er selbst war ein Verfechter des Austritts und gibt den Konservativen mit diesem Thema keine Möglichkeit für eine populistische Abgrenzung. Der Labour-Chef ›prügelt‹ die konservative Regierung für ihr Versagen gegenüber den Gefahren der Corona-Pandemie. Labour präsentierte sich dabei nicht nur als Vertreter der Arbeitnehmer, sondern auch kleinerer und mittlerer Unternehmen, die das Rückgrat der britischen Wirtschaft bilden. Er nahm damit den Konservativen die Wirtschaftskompetenz aus den Händen, und der nächste Premierminister einer Links-Regierung in Großbritannien könnte der adelige Sir Keir Stramer sein.
Zuerst erschienen in NEWS.
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