Patroullie in Nizza, privat
Gedanken zur Ermordung eines Professors durch einen islamistischen Studenten und zum Terroranschlag in Nizza
Von Jean-Luc Vannier
Als Professor mit über 33 Jahren Lehrtätigkeit an Universitäten in Frankreich sowie im Ausland kann ich, auch im Namen vieler Kollegen, die zunehmenden Schwierigkeiten damit bezeugen, sich im universitären Umfeld frei auszudrücken. Dabei spielt die religiöse Intoleranz die größere Rolle als etwa der politische Extremismus. Die Professoren sind sich dessen durchaus bewusst, dass sie leider von ihrer Hierarchie nicht unterstützt werden, weil diese die möglichen Medienausbrüche fürchten, die zu einer politischen Krise führen könnten. Das Schlagwort ist und bleibt »Pas de vagues« (nur keine Wellen, Anm.).
Aufgrund ihrer Geschichte unterscheidet sich in Frankreich und Deutschland das Verständnis von islamistischem Terrorismus und Rechtsextremismus. Meiner Meinung nach kann der Aufstieg des Rechtsextremismus in Frankreich zum großen Teil durch die Untätigkeit der politischen Macht gegenüber der islamistischen Bedrohung erklärt werden.
Schon 1995 wiesen die französischen Nachrichtendienste (DST und RG) in vertraulichen Berichten auf die Gefahr hin, welche die Verbindung des Islamismus mit verschiedenen Formen der Kriminalität in den Vororten französischer Großstädte darstellt. Dies sei die »Hauptbedrohung für die nächsten zehn Jahre«, hieß es damals schon in einem der Berichte. Aber die politische Macht – egal welcher politischen Partei – wollte davon nichts hören und nichts unternehmen, um den bürgerlichen Frieden nicht zu gefährden. Dies ermöglichte es insbesondere den lokalen Politikern, die »muslimischen Stimmen« zu sammeln. Der zu zahlende Preis ist in unserem Alltag unglücklicherweise sehr hoch geworden.
In den 1990er Jahren studierten und entwickelten diese Nachrichtendienste mit besonderer Aufmerksamkeit das Konzept des »aktivistischen Islam«. Dieser betraf Menschen, die sich durch ihr Engagement und ihre militanten Tätigkeiten bemühten, den rechtlichen, verfassungsmäßigen Rahmen des Staates zu beeinflussen, respektive, unter Einbezug der religiösen Normen der Scharia zu ändern. Und dies unter sorgfältiger Beachtung des demokratischen Funktionierens der Institutionen. Dieser Begriff des »aktivistischen Islam« wurde durch die Anschläge vom September 2001 überdeckt – man wird an den Mechanismus von Freuds »Über Deckerinerungen« (1899) denken – und mit auf das Äußerste reduzierten Bezeichnungen ersetzt wie »gemäßigter Islam« und »Dschihadisten«. Und dies hat zweifellos das verhängnisvollste Phänomen für unsere Gesellschaft in den Schatten verbannt.
Dieses Konzept ist gerade durch den Unterschied – wie offensichtlich – in der Behandlung des islamistischen Terrorismus zwischen Paris und Wien wieder aufgetaucht: wenn der französische Präsident beabsichtigt, gegen den »radikalen Islam« zu kämpfen, hat der österreichische Bundeskanzler eindeutig die Notwendigkeit verstanden, auch den »politischen Islam« ins Visier zu nehmen. Die Nuancierung ist alles andere als rein semantisch: Ersterer konzentriert all seine Bemühungen auf die ebenso spektakuläre wie tragische Spitze des terroristischen Eisbergs, während letzterer seinen Kampf auf dessen Mittelschicht ausdehnt.
Mehrere österreichische Spezialisten, sowohl akademische als auch militärische, scheinen weniger zu zögern als ihre französischen Kollegen, den Islam ein »politisches Projekt« zu nennen, und sei es nur, indem sie sich auf Absatz 7 der Einleitung des Korantextes berufen, in dem es heißt: »Der Koran ist eine oberste Verfassung, die das geistige und zeitliche Leben der im Stadtstaat lebenden Muslime organisiert«.
Schon die Option, den »politischen Islam« oder den »aktivistischen Islam« als eines der Elemente der juristischen Antwort auf die Terroranschläge zu benennen, ist in Frankreich politisch – und wahltaktisch – zweifellos heikler als in Österreich.
Wenn die Psychoanalyse keine übermäßige Kategorisierung und Typologisierung befürwortet – eine spezifischere Herangehensweise an die Psychologie – wäre es nicht ohne Interesse, dieses Konzept eines »aktivistischen Islam« zu reaktivieren und damit einen unwirksamen Weg, eine Dichotomie, loszuwerden.
Genau wie ich in meiner Studie »Psychoanalytische Überlegungen zum dschihadistischen Terrorismus: Von der Selbstbestrafung zur Selbstzerstörung« (Vannier, 2017) festgestellt habe, besteht der Unterschied im Grad und nicht in der Essenz zwischen dem Normalen und dem Pathologischen in der menschlichen Psyche: dies könnte zu nützlichen Entsprechungen im Zusammenhang mit dem Islam führen. Als solches bleibt der Islamismus eine Frage, die zweifellos mit Bildung verbunden und nicht nur ein religiöses Phänomen ist.
Es ist auch zulässig, sich über die jüngste Maßnahme der französischen Regierung zum Erlernen der arabischen Sprache in der Schule zu wundern, wenn die Französischkenntnisse an sich zunehmend schwächer werden: Französisch ist eine Sprache, die vom Islamismus – sowie sogar vom Islam ganz allgemein – abgelehnte Werte vermittelt. Meiner Meinung nach wird es sehr komplex sein, das Erlernen der arabischen Sprache von den mit ihr fest verbundenen Dogmen und anderen Vorstellungen zu trennen (israelisch-palästinensischer Konflikt, Originalsprache des Koran …). Ich erwähne nicht einmal die Idee von Intensiv-Sprachkursen im betreffenden Ausland!
Als Lehrer für ausländische Studenten im Rahmen des Eramus-Programms muss ich viel pädagogisches Geschick aufwenden, um ihnen den wesentlichen Begriff des Säkularismus (»Laizität«: Gesetz von 1905 und Artikel 1 der Französischen Verfassung) aus historischer Sicht zu erklären. Diese Studenten haben eine Art »Weltkultur«, die von Relativismus – alles hat den gleichen Wert –, von Unmittelbarkeit – die Dichte der Zeit existiert nicht mehr – und von der heutigen Dominanz des Bildes – auf Kosten des Denkens – geprägt ist. Wird nicht etwa Journalismusstudenten geraten, kurze Artikel zu schreiben, als unabdingbare Voraussetzung für deren Lesbarkeit?
Diese Studenten sind leider sehr schlecht darauf vorbereitet, die Besonderheiten der französischen Kultur und Zivilisation zu verstehen. Für Studenten aus der arabisch-muslimischen Welt und auch manchmal aus Amerika scheint das Problem häufig unüberwindbar zu sein. Einige sagen sogar zu mir: »Demnach ist Laizität die Religion Frankreichs«, als ob es ihnen unmöglich wäre, ohne eine Religion zu leben. Dies ist der Grund, warum die französische Sprache so wichtig ist, um diesen Begriff der »Laizität« zu verstehen. Ich verweise auf meine Studie über die bedauerlichen Entwicklungen der französischen Sprache nach einem psychoanalytischen Ansatz, der kürzlich in « Le Carnet Psy » veröffentlicht wurde (Vannier, 2020).
Trotz dieser Entwicklungen bleibt die französische Sprache mit unserer Geschichte und unserer Kultur tief verknüpft. Allgemeiner formuliert handelt es sich um eine Mutation der libidinösen Ökonomie, welche auf den von Freud beschriebenen Mechanismen der Verdrängung beruht. Diese konnten nach herkömmlichem Verständnis dazu dienen, kulturelle Errungenschaften zu erreichen. Heute aber steht das Streben nach unmittelbarem Genuss im Vordergrund und, wo die sexuelle Lust kein Maßstab für andere Arten des Genusses ist, findet gewissermaßen eine Entbindung vom Sexualtrieb oder, besser gesagt, vom sexuellen Todestrieb statt. Die jungen Generationen verneinen die grundlegende Asymmetrie aller menschlichen Beziehungen, und dies paradoxerweise durch die scheinbare Aufwertung der Unterschiede sowie durch den moralischen Anspruch auf Ebenbürtigkeit.
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