WM-Tagebuch, 4. Juli
Ich muss mich jetzt schon entschuldigen, denn es geht schon wieder um den Tennisclub in Guildford, dieser Bilderbuch-Stadt im Süden von London, mit einer der besten Universitäten des Landes und einem Markt jeden Mittwoch auf der verkehrsfreien Hauptstraße im Zentrum, wo die Bauern aus der Umgebung Obst, Gemüse und selbst gebackene Kuchen anbieten.
Der Verein hat nur 6 Plätze. Zwei wurden vor fünf Jahren verkauft, dort stehen jetzt zwei Einfamilienhäuser. Der Boden habe sich gesenkt, erklärte mir der Captain des Clubs, eine wichtige Funktion, denn er kann die Spieler je nach Können in verschiedene Gruppen einteilen, was natürlich immer wieder auf Kritik stößt, denn wer lässt sich schon gerne in eine Gruppe verbannen, in der Spieler mit angeblich niedrigem Niveau spielen. Aber sein Wort ist entscheidend. Bei Tee und Keksen nach dem Mittwoch-Alte-Herren-Vormittag wurde jedoch schon öfters geflüstert, dass die beiden Plätze aus reinem Geldmangel verkauft wurden, weil der ehemalige Präsident sich mit dem Bau eines neuen Vereinsgebäudes übernommen hätte. Grundstücke in der Nähe des Zentrums, wo der Tennis-Klub liegt, sind inzwischen so teuer, dass der Wert der beiden Plätze dem Klub auf Jahrzehnte eine finanzielle Sicherheit bieten konnte.
Doch niemand dachte Dienstagabend an die Finanzen des Klubs, es ging einzig allein um das Spiel England gegen Kolumbien. Im Tennisverein sammelten sich die Fußball-Fans schon Stunden vor dem Anpfiff, die einzelnen Spieler, die ich meist nicht kannte, wurden bewertet, deren Können diskutiert, und jeder hatte Argumente für seine eigene Aufstellung. Bier wurde angeboten, eine Ausnahme unter den ewig Tee und Kaffee trinkenden Mitgliedern, die Stühle in Reihen aufgestellt wie in einem Kino mit Tischen dazwischen, denn es sollte ein kulinarischer Fußballgenuss werden.
Pünktlich zum Anstoß brachten drei Freiwillige etwa 20 Papiertüten mit frischen, heißen Fish-and-Chips. Besteck und Plastikteller waren auf den Tischen verteilt, auch getrunken wird hier nur aus Papier oder Plastik. Glas oder Porzellan ist verpönt, denn niemand will ein paar Splitter riskieren, die nach dem Bruch eines Glases oder Tellers irgendwo auf dem Boden zurückbleiben.
Neben mir saß John, ein etwa 70-jähriger ehemaliger Bauunternehmer, der mich fragte, ob ich wüsste, wie man Fish-and-Chips esse, die im Papier serviert werden. Ich wusste nicht, was er meinte, wie sollte man einen gebackenen Fisch schon essen, der in der Papiertüte liegt.
»Reiß das Papier auf, bis es flach auf dem Teller liegt«, erklärte er. »Nimm den Fisch und die Kartoffel nicht heraus, lass alles auf dem Papier und warte ein paar Minuten.«
Ich nickte, beobachtete ihn und versuchte alles so wie er zu machen.
»Und jetzt?«, fragte ich ihn.
»Jetzt sind der Fisch und auch die Chips knusprig. Wenn du alles sofort isst, bleibt es weich und praktisch ungenießbar.«
Er hatte recht. Nach fünf Minuten Geduld krachte die Panier des Fisches beim Hineinbeißen und sogar die Chips bogen sich nicht, waren plötzlich hart und knusprig. Ich tauchte alles in Ketchup und Mayonnaise, wie ein dummer Ausländer, während die echten Briten ihren Fisch nur mit Essig essen.
Doch nun zum Spiel, das eher mit gewisser Enttäuschung kommentiert wurde, da man so gar nicht mit der Leistung des Englischen Teams zufrieden war. Ein Elfmeter-Tor und ein Fehler in der letzten Minute brachten trotz Verlängerung nur ein 1:1. Den Trost bot eine Meisterleistung des Torhüters Jordan Pickford, der den letzten Penalty der Kolumbianer mit einer blitzschnellen Handbewegung abwehrte und so den Sieg der Briten sicherte. Er war der Held des Abends. Von vielen wegen seiner geringen Größe immer wieder kritisiert, zeigte er an diesem Abend, dass es bei einem Goal-Keeper eben nicht immer auf die Körpergröße ankomme.
In etlichen Interviews nach dem Spiel erklärte er, wie er mit dem Trainer jeden Spieler der Kolumbianer vor dem Spiel studiert hätte, wer von ihnen wie oft in welche Ecke schießen würde. Nur einer von ihnen, Radamel Falcao, der erste, der antrat, sei völlig unberechenbar und habe im Laufe der Jahre ohne System immer wieder die Ecke bei Elfmetern gewechselt. Bei allen anderen sei ein gewisser Rhythmus zu beobachten und so könne man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erraten, welche Richtung der Ball nehmen würde. Deshalb sei er auf den letzten Schuss vorbereitet gewesen.
Der Tennis-Klub feierte den Sieg mit einer gewissen Gelassenheit, denn niemand hatte vor der WM erwartet, dass England überhaupt die Endrunden erreichen würde.
»Wir haben bei früheren Weltmeisterschaften das Elfmeter-Schießen meist verloren«, meinte mein Fish-and-Chips Spezialist, der neben mir saß. »Dass wir diesmal weitergekommen sind ist, ist eigentlich schon eine Sensation.«
»British understatement?«, fragte ich ihn
»No, just being realistic«, antwortete er grinsend.
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