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Eine Replik
In seinem Artikel »Der Marsch der Rückkehr. Ein Fazit« kritisiert Thomas Eppinger auf Mena-Watch völlig zu recht die verrückte und falsche Wahrnehmung so vieler Europäer, dass es sich bei den Ereignissen am Grenzzaun des Gazastreifens um friedliche Proteste gehandelt habe, die böswillig von israelischen Soldaten zusammen geschossen worden seien.
»Dieser Tag (war) vor allem eines: ein Propaganda-Erfolg der Hamas. Denn die wochenlangen Unruhen in Gaza waren keine Proteste, schon gar keine verhältnismäßig spontanen auf die Eröffnung der US-Botschaft, sondern ein monatelang geplanter, militärisch organisierter Angriff auf die israelische Grenze. Die Hamas mobilisierte Zehntausende, die sie gegen die Grenze hetzte.«
Thomas Eppinger scheint davon auszugehen, dass die Hamas eigentlicher Organisator und Triebkraft des so »Marsches der Rückkehr« gewesen sei, und es sich bei der ganzen Veranstaltung nur um eine weitere Aktion dieser Partei bzw. Terrororganisation gehandelt habe, die dem erklärten Ziel diente, gewaltsam den jüdischen Staat zu vernichten. Alle Erklärungen, die zuvor getätigt wurden, es solle sich um eine friedliche und gewaltfreie Aktion handeln, wären dann rein taktischer Natur gewesen, um Israel und vor allem westliche Medien und Politiker zu täuschen.
In Wirklichkeit war ein quasi militärischer Angriff auf den Zaun geplant, den man an verschiedenen Stellen gleichzeitig überwinden wollte, um dann auf israelischem Staatsgebiet möglichst viele Menschen zu verletzten und zu töten. Aussagen hoher Hamas-Funktionäre, die sie tätigten, nachdem, wie Eppinger richtig schreibt, der Marsch sich »militärisch und politisch (als) klare Niederlage für die Hamas« erwies, deuten in genau diese Richtung. Man habe, erklärte etwa Mahmoud al-Zahar, die Öffentlichkeit bewusst getäuscht, als man von friedlichem Widerstand sprach.
Nun stellt sich die Frage, weshalb die Hamas sich dann die Mühe gemacht hat, in den vergangenen Monaten immer wieder zu betonen, bei dieser Aktion handele es sich in der Tat um eine friedliche und gewaltfreie. Wen wollte sie denn täuschen? Die Menschen in Gaza? Die Israelis? Die westliche Öffentlichkeit? Und warum? Welchen Sinn soll diese Täuschung machen? Israelische Geheimdienste sind, das weiß man bei der Hamas zur Genüge, in der Regel bestens informiert, was in Gaza vor sich geht und was die Hamas plant. Viel zu viele Medien und Politiker in Europa zeigen, auch das ist bekannt, allergrößtes Verständnis für jede Form von »gewaltsamem Widerstand« seitens der Palästinenser, ja sie erwarten ihn förmlich. Wollte man also die Öffentlichkeit in Gaza täuschen? Nur das machte Sinn. Und blickt man auf die Entstehungsgeschichte des Marsches zurück, könnte die Aussage dann sogar stimmen.
Wer plante die Proteste ursprünglich?
Denn anders als Thomas Eppinger behauptet, war es eben nicht die Hamas, die diesen Protest ursprünglich organisiert hatte, sondern eine Gruppe von Gaza-Palästinensern, die damit einen weit älteren Gedanken aufgriff. Die Idee, friedlich und unbewaffnet Israels Grenzen zum Gazastreifen, der Westbank und auch den arabischen Nachbarländern zu überschreiten ist nämlich keineswegs neu. Schon 2011, inspiriert durch die Massenproteste des so genannten arabischen Frühlings, kam es zu einer ähnlichen Aktion. Damals versuchte unter anderem ausgerechnet der syrische Präsident Bashar al-Assad sie für sich zu reklamieren.
Die Aktion scheiterte, der Gedanke blieb. Sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen wurden seitdem neue Formen des Protestes diskutiert und geplant. Wenn von Gewaltfreiheit die Rede war, dann weniger aus ethischer Überzeugung, sondern aus taktischem Kalkül. Als großes Vorbild dient dabei der von Gandhi in Indien organisierte Salzmarsch, der die Moral der britischen Truppen, die auf unbewaffnete Demonstranten einprügeln mussten, nachhaltig untergrub. Was, wenn nun Zehntausende friedlich von allen Seiten auf Israels Grenzen zumarschieren, keine Waffen tragen und sich notfalls beim Versuch, diese Grenzen zu überwinden, zu Dutzenden verletzen oder gar erschießen lassen? Wenn sie statt AK-47-Gewehren, Zwillen oder Molotow-Cocktails nur Olivenzweige in den Händen hielten? Wie lange würden dann israelische Soldaten schießen? Wie lange würde die israelische Bevölkerung entsprechende Bilder im Fernsehen aushalten? Wie würde dann die so genannte Weltöffentlichkeit reagieren? All dies waren und sind Fragen, die palästinensische Aktivisten sich seitdem stellen und diskutieren.
Sie wissen nämlich sehr genau: Sollte es ihnen je gelingen – ohne dass sie von einem arabischen Nachbarstaat oder einer der palästinensischen Parteien instrumentalisiert würden – könnten solche Aktionen für Israel wesentlich bedrohlicher werden, als das gesamte Raketenarsenal der Hamas. Dann nämlich stünde nicht nur die israelische Regierung, sondern die ganze Gesellschaft vor der Frage, ob man bereit ist, seine Grenzen notfalls mit tödlicher Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu verteidigen. Wie lange wären Rekruten der Armee bereit, dies zu tun, bis die ersten den Dienst verweigern? All dies sind Fragen, die sich jeder, dem die Existenz Israel sam Herzen liegt ebenfalls stellen sollte.
Der »Rückkehrmarsch« war wohl ursprünglich als genau solch eine Form des Protestes geplant und eben keineswegs nur ein taktisches Manöver der Hamas. Sicher, die Hamas war vom ersten Tag an in den Planungskomitees vertreten, dominierte sie aber nicht. Laut Ynet stammt die Idee ursprünglich von einem Aktivisten namens Ahmed Abu Artima und wurde dann von anderen aufgegriffen, darunter Hasan al-Kurd, den das antizionistische linke israelische Magazin +972 im März interviewte, und der damals folgendes Statement abgab:
»Wir wollen ein Signal aussenden, dass wir in Frieden leben wollen – mit den Israelis. Wir lehnen das Steinewerfen und das Abfackeln von Reifen ab. Wir werden sicherstellen, dass die Demonstration nicht gewalttätig wird – jedenfalls, soweit es auf uns ankommt. (…) Unsere Botschaft ist eine friedliche. Wir lehnen die Anwendung von Gewalt ab. Wenn Sie sich an 1987 zurückerinnern, damals war der Gazastreifen voller Israelis. Wir wollen, dass die Belagerung aufgehoben wird und wir zu jener Zeit zurückkehren können. (…) Israel wird zwei Optionen haben. Entweder beenden sie die Belagerung oder sie nehmen Verhandlungen auf, ob direkt oder indirekt, darauf kommt es letztlich nicht an, solange wir die Möglichkeit erhalten, in Würde zu leben, und der Schmerz und das Leiden der Menschen hier im Gazastreifen ein Ende findet.«
Andere Stimmen klangen weit weniger versöhnlich und al-Kurd mag entweder eine Ausnahme sein oder bewusst gegenüber einem israelischen Journalisten die Wahrheit verschwiegen haben (wobei +972 mit Gewalt von palästinensischer Seite eigentlich keine Probleme hat), sie alle betonten aber im Vorfeld, dass die Proteste friedlich verlaufen sollten.
Zeitweilig schien sogar die Hamas auf diese Linie einzuschwenken und inszenierte sich mit Bildern von Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela. Vom Chef der Hamas, Ismael Haniyeh, waren plötzlich solche Töne zu hören: »Heute bemühen (wir) uns friedlich um die Wiedererlangung unserer Grundrechte, an erster Stelle, das Recht, friedlich in unserem Land zu leben, das Recht, nach Hause zurückzukehren, Bewegungs- und Reisefreiheit und Zugang zu sauberem Wasser und gesunden Nahrungsmitteln.« Und ein anderer Hamas-Vertreter, Ahmes Yousef, erklärte in einem Gespräch mit dem Middle East Institute, »dass es den jungen Organisatoren gelungen ist, die politischen Fraktionen im Gazastreifen einschließlich der Hamas davon zu überzeugen, dass »Gewaltfreiheit eine gute Strategie ist«. Er sagte, die Anführer des Marsches würden sich mit Gewaltfreiheit »gut auskennen«, und dies steigere die Akzeptanz für derartige Taktiken im Gazastreifen.
Wieso schwenkte die Hamas auf diesen Kurs ein?
Warum all diese Erklärungen im Vorfeld, wenn es sich um einen geplanten, militärisch organisierten Angriff gehandelt haben soll? Warum Gandhi und Mandela, zwei Persönlichkeiten, die bisher in islamistischer Geschichtsschreibung und Ikonographie keinen besonders hohen Stellenwert hatten? Nur um ihre eigenen Landsleute zu täuschen?
Selbst die innerpalästinensische Konkurrenz von der Fatah reagierte positiv auf diese Verlautbarungen der Hamas: »›Wir begrüßen es, dass unsere Brüder von der Hamas verstanden haben, dass der unbewaffnete Volkswiderstand der richtige Weg ist‹, erklärten Vertreter der Fatah in jüngster Zeit wiederholt mit Blick auf den Marsch der Rückkehr im Gazastreifen.« Solche Äußerungen sind keineswegs als Ausdruck von einem tiefen Sinneswandel oder überzeugter Friedfertigkeit zu lesen, sondern der Einsicht geschuldet, dass mit den den Palästinensern zur Verfügung stehenden gewaltsamen Mitteln und Waffen weder Israel zu besiegen ist, noch man irgendwelche kurzfristigen Ziele erreicht, sondern im Gegenteil Niederlage nach Niederlage erleidet.
Schon 1992 meinte in einem Interview mit mir ein Vertreter der Kommunistischen Partei in Gaza, er halte die in der Intifada ausgeübte Gewalt für nicht zielführend. Vielmehr müssten die Palästinenser von Nelson Mandela den Spruch »One Man, One Vote« kopieren und von Gandhi die Protestformen – und schon brächten sie Israel in ein schier unlösbares moralisches Dilemma, denn dann würden bedeutende Teile der israelischen Gesellschaft sich mit den Palästinensern solidarisieren.
Es sind dies alles also keine neuen Ideen und dass ausgerechnet die Hamas sie nun übernimmt, dürfte keineswegs Zufall sein. Schließlich steht sie selbst in der Kritik und seit Jahren regt sich der Unmut über ihre Herrschaft im Gazastreifen, der wenn er sich allzu offen äußert, brutal unterdrückt wird. Denn die Lage im Gazastreifen ist, fünfundzwanzig Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens von Oslo, katastrophal, wie Seth J. Frantzmann in der Jerusalem Post zusammenfasst:
»Die Jahre der Blockade und des Konflikts haben den Gazastreifen ruiniert. Der UNRWA zufolge sind 80 Prozent der Bevölkerung auf internationale Hilfsleistungen angewiesen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 41 Prozent. Strom gibt es täglich nur für sechs bis acht Stunden. Es gibt Probleme mit der Abwasserentsorgung, dem Mangel an Wasser und anderen grundlegenden Infrastrukturbedürfnissen. Die Bewohner des Gazastreifens haben praktisch keine Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Das Altersmittel liegt im Gazastreifen bei 18 Jahren. Demnach hat die Hälfte der Bevölkerung mehr oder weniger ihr gesamtes Leben unter der Blockade und der Herrschaft der Hamas verbracht.«
Gerade unter Jugendlichen grassiere, schreibt Sarah Helms, eine allgemeine Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, die sich etwa in extrem hohen Selbstmordaten und massivem Drogenmißbrauch ausdrücke. Immer wieder zünden sich auch junge Menschen aus Protest gegen die Verhältnisse selbst an. Und kaum öffnet Ägypten für ein paar Tage die Grenze, versuchen Massen von Menschen aus dem Gazastreifen zu entkommen.
Die Hamasführung weiß sehr genau, dass immer mehr Menschen in Gaza sie neben Israel und Ägypten für ihre miserable Lage verantwortlich machen; und sie weiß auch, dass es angesichts der überall herrschenden desolaten Verhältnisse in der arabischen Welt jederzeit zu unkontrollierbaren Massenprotesten kommen kann. Fest sitzt sie nämlich keineswegs im Sattel, viel zu bieten außer Hetz- und Hassreden hat sie auch nicht mehr. Längst auch ist sie als einziger sunnitischer Alliierter des Iran in der Region weitgehend isoliert und völlig von Unterstützung aus Teheran abhängig. Das Regime im Iran wiederum interessiert sich wenig für die Lage der Menschen in Gaza, sieht in der Hamas vor allem ein nützliches Werkzeug in seiner gegen Israel gerichteten Nahoststrategie.
Als sich also im Gazastreifen Komitees bildeten, um diesen Rückkehrmarsch vorzubereiten, unterstützte die Hamas diese Aktivitäten am Anfang, unterdrückte sie so wenig, wie sie sie anfangs vollständig für sich vereinnahmte. (Dass, wer in Gaza eine größere Aktion plant, zumindest der Duldung, wenn nicht Unterstützung der herrschenden Hamas bedarf, die ansonsten äußerst repressiv oppositionelle Regungen unterdrückt, dürfte klar sein.) Die Vereinnahmung geschah offenbar erst zu einem späteren Zeitpunkt. Zu Recht sprechen die Labour Friends of Israel, eine proisraelische Gruppierung innerhalb der britischen Arbeiterpartei, deshalb davon, dass die Protestbewegung von der Hamas später übernommen worden sei:
»Diese Demonstrationen wurden ursprünglich von einer Koalition palästinensischer Basisgruppen organisiert, die friedlich gegen den 70. Jahrestag der Gründung des Staats Israel protestieren wollten. Sie sprachen sich ausdrücklich gegen eine Konfrontation ›Wir wollen ein Signal aussenden, dass wir in Frieden leben wollen – mit den Israelis. Wir lehnen das Steinewerfen und das Abfackeln von Reifen ab‹, erklärten sie. Doch hatte die Hamas andere Vorstellungen. ›Der Marsch der Rückkehr wird fortgesetzt … bis wir die provisorische Grenze entfernt ‹, erklärte ihr Anführer im Gazastreifen Yahya Sinwar. Die Bewohner des Gazastreifens ›die Lebern jener, die sie belagern, essen‹.
In diesem Geist haben Kämpfer der Hamas die Deckung friedlicher Proteste genutzt, um zu versuchen, den Grenzzaun zu durchbrechen. Sie haben Brand- und Sprengsätze geworfen und das Feuer auf israelische Grenzwächter eröffnet. Zudem haben sie versucht, selbstgebaute Sprengsätze an der Grenze anzubringen. Sie haben Drachen mit brennendem Kraftstoff in Richtung der landwirtschaftlichen Nutzflächen der unmittelbar jenseits der Grenzen gelegenen Kibbuzim steigen lassen. Und am Wochenende posteten sie in den sozialen Medien Bilder und Karten, die für den Fall, dass es Demonstranten gelingen sollte, den Grenzzaun zu durchbrechen, die kürzesten Routen vom Grenzzaun zu den nahegelegenen israelischen Ortschaften zeigten.«
… und radikalisierte ihn dann?
Was dann geschah, ist allgemein bekannt. Nur warum endete der Marsch so, wie er endete? Wäre es nicht auch für die Hamas propagandistisch wesentlich sinnvoller gewesen, an der ursprünglich proklamierten Gewaltlosigkeit festzuhalten? Glaubte ihre Führung wirklich, ein paar ihrer Mitglieder würde der Durchbruch durch die Grenzanlagen gelingen und sie könnten dann ernsthaft Schaden in Israel anrichten, wo doch israelischen Geheimdiensten und Armee seit langem bekannt war, dass an diesem 14. Mai größere Proteste geplant waren und Israel deutlich signalisiert hatte, dass seine Soldaten mit scharfer Munition schießen würden? Hilft es in ihrer derzeitigen Lage der Hamas wirklich so viele Tote und Verletzte zu »produzieren«? Sogar Inge Günther, die ansonsten nicht gerade für ihre kritische Berichterstattung über die Palästinenser bekannt ist, bemerkte, dass es angesichts der vielen Toten und Verletzten in Gaza »empörte Reaktionen« gab, »wo sonst allenfalls hinter vorgehaltener Hand die Hamas kritisiert wird«.
Sicher die vielen Toten und tausende von Verletzten mögen ihr kurzfristig propagandistisch ein wenig helfen, nur wofür? Mit der ursprünglichen Idee eines friedlichen Marsches zur und über die Grenze, die in Gaza offenbar auf breite Zustimmung und Unterstützung stieß, hatte das Ganze am Ende jedenfalls herzlich wenig zu tun. Als die Planungen für diese Aktion im Winter begannen, wusste noch niemand, dass am 14. Mai, dem Geburtstag Israels, den die Palästinenser traditionell als Nakba-Tag begehen, die USA ihre Botschaft ausgerechnet an diesem Tag nach Jerusalem verlegen würden.
Könnte es nicht, anders als von Thomas Eppinger vermutet, sogar so sein, dass die Hamas die Proteste an sich riss, weil sie einen anderen, friedlichen Ablauf der Demonstrationen als Bedrohung auch für ihren eigenen Machterhalt empfunden hätte? Beteiligten sich sogar weniger Menschen, als ursprünglich angenommen, weil sie dann doch die Führung übernahm? Hatte sie gar Order aus dem Iran, die Proteste in ein blutiges und tödliches Spektakel zu verwandeln? Denn vor allem der Iran brauchte solche Bilder für seine Propaganda und wusste, dass die Verlegung der amerikanischen Botschaft in der restlichen arabischen Welt weitgehend indifferent hingenommen wurde. Nirgends sonst als in Gaza kam es an diesem Tag zu namhaften Protesten, sogar in der Westbank blieb es vergleichsweise ruhig.
Immerhin erklärte der gleiche Yahya Sinwar nach dem 14. Mai in einem Interview, wie exzellent die Beziehungen der Hamas zur Hizbollah, der iranischen Regierung und dem Führer der Quds-Brigaden, Qasim Sulemani seien, eine Botschaft, die dieser Tage in der sunnitisch-arabischen Welt alles andere als Anklang finden dürfte. Oder brechen gar gerade Differenzen innerhalb der Führungsriege der Hamas auf, welche Taktik die erfolgreichere sei? (Über das Ziel herrscht weiter Einigkeit: Die »Befreiung« ganz Palästinas). Es sind dies alles Fragen, die bislang weitgehend unbeantwortet bleiben und doch gestellt werden müssen.
Das Dilemma auf den Punkt gebracht
Festzuhalten bleibt: So bedrohlich die Lage am Grenzzaun auch wirkte und so unendlich hässlich viele Szenen waren – angefangen von mit Hakenkreuzen bemalten Flugdrachen bis hin zu Gangs von Jugendlichen die »Khaibar, Khaibar, ya Yahud« brüllten und dabei Messer schwangen – die Bedrohung Israels und von Israelis doch weitgehend symbolisch blieb. Sicher ist es richtig, sich die Frage zu stellen, was etwa in grenznahen israelischen Dörfern und Kibbuzim hätte passieren können, wäre ein massenhafter Durchbruch gelungen, nur dürfte auch auf der Seite des Gazastreifens bekannt gewesen sein, dass die israelische Armee viel zu professionell und gut ausgebildet ist, um ein Massaker zuzulassen.
Ganz im Gegenteil wird auch in Israel und keineswegs nur in der notorischen NGO-Community die Frage laut gestellt, ob es wirklich nötig war, scharf zu schießen und so viele Menschen an diesem Tag zu töten und zu verletzten – nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Soldaten selbst, wie etwa Donniel Hartman in der Times of Israel schreibt:
Ich glaube nicht, dass die Hauptverantwortung für die Realität im Gazastreifen bei Israel liegt. Mitverantwortlich ist es aber schon. Ich glaube nicht, dass unsere Soldaten an der Grenze auf Demonstranten schießen, sondern sie befinden sich im Krieg. Ich glaube nicht, dass die von der Hamas angestifteten Aktionen an der Grenze Israel existenziell bedrohen. Sie stellen allerdings eine potenziell lebensgefährliche Bedrohung für viele Israelis dar. Andererseits wurden an einem Tag 60 Menschen getötet und tausende verletzt. (…)
»Ich glaube nicht, dass unsere Soldaten gegen das Völkerrecht verstoßen, aber ich wünsche mir eine öffentliche Diskussion darüber, was unsere Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen erleben. Ich möchte unsere Soldaten davor schützen, dass sie eine Lage gebracht werden, in denen ihre Befehle nicht eindeutig sind und sie sich daher in moralisch kompromittierende Situationen versetzt sehen.«
Da es allerdings – und außer ein paar verblendeten Aktivisten der so genannten Palästinasolidarität, bestreitet dies wohl niemand mehr – auf Seiten der Palästinenser zu Gewalt kam und der Marsch eben keineswegs so friedlich, wie ursprünglich angekündigt verlief, diskutiert man heute, ob die Maßnahmen der Armee angemessen waren, nicht dass die Armee einschreiten musste. Was aber wäre geschehen, die Palästinenser wären wirklich ganz unbewaffnet gewesen. Wie hätte die Armee dann reagiert? Ein Experte antwortet so:
›Wenn man mit 100 Soldaten dort ist, und da sind 2000 unbewaffnete Menschen, da geben dann die Zahlen den Ausschlag‹, erklärte Noru Tsalic, ein Veteran der Israelischen Streitkräfte, der während der Ersten Intifada Ende der 1980er Jahre als Offizier diente. Damals gab es zahlreiche palästinensische Proteste. ›Wenn es keinen Zaun mehr gibt und tausende Menschen stürmen auf einen zu, hat man keine andere Wahl, als zu schießen und zu versuchen, möglichst viele Menschen zu töten.‹
Und damit wäre das Dilemma formuliert und zum Ausdruck gebracht. Die Idee und der Plan, Israel mit gewaltfreien Mitteln zu konfrontieren, nämlich ist auch nach den Ereignissen im Mai keineswegs begraben. Aus welchen Gründen auch immer die Proteste so eskalierten, sie müssen es das nächste Mal nicht wieder tun. Damit stellt sich erneut die zentrale Frage: Was, wenn eines Tages Zehntausende nur mit Olivenzweigen und Bildern von Gandhi, Mandela und Lind in den Händen auf die Grenzen zumarschieren? Wie werden israelische Sicherheitskräfte und Armee dann regieren? Ich bin überzeugt, ein solches Szenario birgt für Israel eine weit größere Gefahr als ein paar mit Brandsätzen bestückte Flugdrachen. Denn es würde die israelische Gesellschaft vor eine moralische Zerreißprobe stellen.
Solange sich die Situation im Gazastreifen nicht grundlegend ändert – auf absehbare Zeit bleibt ein »Free Gaza from Hamas« wohl Wunschtraum –, wird es immer wieder zu Protesten, Ausschreitungen, Demonstrationen und militärischen Konflikten kommen. Heute leben in Gaza fast zwei Millionen Menschen, bald werden es 2,5 Millionen sein. Die einen fordern eine Verbesserung ihrer Lebenssituationen und geben Israel, Ägypten und der Hamas gleichermaßen die Schuld, andere träumen – angestachelt auch von einer völlig unverantwortlichen internationalen Politik, die sie in dem Irrglauben unterstützt, sie hätten irgendwo in Israel ein Heim – von einer Rückkehr, die es so nicht geben wird und wieder andere sehen sich im Auftrag Allahs bestimmt, das »zionistische Gebilde« zu zerstören. Für sie alle gibt es keine Perspektive im und mit dem Status Quo. Ganz im Gegenteil deutet alles darauf hin, dass sich die Lebenssituation der meisten Menschen in Gaza sogar noch weiter verschlechtern wird.
Zugleich wird, auch das ist, ob man will oder nicht, ein Fakt, der Gazastreifen auch in Zukunft in der unmittelbaren Nachbarschaft Israels verbleiben. Für einige Zeit mögen Grenzzäune, ägyptische Interventionen und scharfe Schüsse diese Grenze weiter sichern, der 14. Mai hat allerdings gezeigt, wie wenig ein Zaun auszurichten vermag, sollten eines Tages wirklich Zehntausende bereit sein, ihn unter allen Umständen zu überwinden, bzw. welcher Preis dann gezahlt werden müsste. Eine grundlegende Änderung der Situation wäre also dringen vonnöten. Nur, und Seth J. Frantzman bringt es in seinem Artikel auf den Punkt, gibt es in absehbarer Zeit weder einen Plan noch scheint eine langfristige Lösung auch nur in Fernsicht:
»Für den Gazastreifen scheint es keinen Ausweg zu geben. Die Versöhnungsabkommen führen nie zum Ziel, die Kriege haben nichts verändert, die Proteste der Bewohner des Gazastreifens bewirken nichts, und zahlreiche Initiativen der letzten Jahre, die den Gazastreifen in ein ‚neues Singapur‘ mit einer vorgelagerten Insel oder üppigen Gewächshäusern und einem Flughafen verwandeln wollten, sind allesamt ruiniert worden. Wie die beteiligten Parteien – seien es die israelischen Sicher»heitskräfte und Politiker, die ägyptischen Machthaber, die Palästinensische Autonomiebehörde, die Hamas oder die Bewohner des Gazastreifens – eine bessere Zukunft herbeiführen wollen, ist unklar.«
Ursprünglich, so scheint es im Rückblick, war der so genannte Rückkehrmarsch nämlich als Versuch gedacht, diesem Dilemma irgendwie zu entkommen, irgendeinen Ausweg aus der von Frantzman beschriebenen hoffnungslosen Lage zu finden. Die großen Verlierer des 14. Mai sind deshalb Menschen wie Ahmed Abu Artima und Hasan al-Kurd, die immerhin, anders als die Hamas, von Frieden und Koexistenz mit ihren israelischen Nachbarn sprechen und deren Ziel zumindest nicht die gewaltsame Auslöschung Israels zu sein scheint. Auch wenn ihre Vorstellungen etwa von einer möglichen Rückkehr so illusorisch sind wie das Gerede von einer Ein-Staaten-Lösung, dürfte man – nach Jahren von Blockade, Krieg, Not und übelster Indoktrination durch Hamas und andere – in Gaza kaum moderatere Ansprechpartner finden.
Und niemand weiß, wie viele im Gazastreifen überhaupt so denken wie sie, auch wenn sich ihr ursprünglicher Aufruf doch recht großer Beliebtheit zu erfreuen schien. Das wenigstens macht ein wenig Hoffnung. Nur, hätte sich die Hamas, und das ist die andere Seite, dieser Aktion nicht bemächtigt, sie wäre für Israel vermutlich zu einer weit größeren, existentielleren Bedrohung geworden als das, was dann am 14. Mai geschah. Ein israelischer Freund, dessen Abneigung gegen das Kabinett Netanjahus so groß ist, dass er gerne zu Übertreibungen neigt, schrieb mir, eigentlich müsse die Regierung der Hamas deshalb dankbar sein. So könne das das Ganze als Angriff von Terroristen auf die Grenze abgehandelt werden, alle, die der festen Überzeugung seien, mit den Palästinensern sei ohnehin kein Frieden zu machen, fühlten sich bestätigt und der unhaltbare Status Quo werde erhalten, bis es zur nächsten Explosion kommt.
Derartige Stellungnahmen spiegeln in ihrer Radikalität ganz sicher alles andere als die Ansichten der Mehrheit in Israel wieder. Aus ihnen spricht allerdings eine Verzweiflung über die Ausweglosigkeit der Situation, die auch Donniel Hartman in seiner Kolumne treffend zum Ausdruck bringt:
»Der Gazastreifen verschlägt mir die Sprache. Mir geht es wie den meisten Israelis. Ich bin nicht nur traurig über ihr Vorgehen und die Wege die sie eingeschlagen bzw. nicht eingeschlagen haben, ich bin wütend. Ich bin ein treuer Anhänger der Zweistaatenlösung und glaube an das Recht der Palästinenser auf Souveränität in einem eigenen Staat, in dem sie in beiderseitigem Frieden und beiderseitiger Sicherheit Seite an Seite mit Israel leben können. Ich bin wütend, weil ich glaube, dass der Hass und die Gewalt im Gazastreifen womöglich den Glauben Israels an die Machbarkeit der Zweistaatenlösung in unserer Generation begraben haben. Jede Diskussion über einen palästinensischen Staat im Westjordanland wird sofort mit dem Argument zurückgewiesen, dass man es dort dann mit einem ‚weiteren Gazastreifen‘ zu tun bekommen werde. (…) Die Hauptverantwortung für die Realität im Gazastreifen mag zwar nicht bei uns liegen, doch wie alle moralischen Menschen müssen auch wir uns ständig fragen, ob und wie wir zu einer Lösung beitragen können.«
Zuerst erschienen auf mena-watch
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