DAS ANTI-SALZBURG

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Photo: Florian Prischl, CC BY-SA 3.0

Über Opern und Italianità in Pesaro

Mitte August, wenn die Fabriken in Italien schließen, und Vater, Mutter, Kind, Oma, Opa, Onkel und Tante ihr Badesachen packen, die Schwimmflügel für die Kleinsten und den neuen Sonnenhut für die einsame Schwester des Vaters, die noch immer bereut, dass sie den Schulkollegen damals ablehnte, der sie schon während des Studiums heiraten wollte, aber eben nicht gut genug war, denn, wer weiß, es hätte sich ebenso ein Besserer finden können, wie der Freund des Verehrers, der dann die andere nahm, wer konnte das ahnen damals; also um diesen 15. August herum findet in Pesaro, eine außerhalb Italiens nicht besonders bekannte Stadt an der Küste südlich von Rimini und nördlich von Ancona, das alljährliche »Rossini-Festival« statt, aus einem einzigen Grund, weil nämlich der Komponist Gioachino Rossini hier 1792 geboren wurde.

Zehn Tage lang werden einige der 39 Opern gespielt, die der Komponist hinterließ, mit zum Teil weltberühmten Sängern, die während des Sommerlochs der großen Bühnen eine Woche in dieser Kleinstadt verbringen. Die bekannteste seiner Opern ist sicherlich »Il Barbiere di Siviglia« (Der Barbier von Sevilla), eines der wenigen heiteren musikalischen Bühnenstücke der sonst fürchterlich ernsten Opernwelt, das – wenn es entsprechend humorvoll inszeniert wird – die Zuseher neben der grandiosen Musik garantiert zum Lachen bringt. Im Barbier wie in der Oper Adina, die ebenfalls während des Festivals gezeigt wurde, geht es um ältere Herren, die jüngere Frauen heiraten wollen und damit scheitern. Besonders bösartig geht Rossini im Barbier mit dem ergrauten Helden um, der nicht nur die Frau am Ende nicht bekommt, sondern sich drei Stunden lang lächerlich macht.

Ouvertüre zu Wilhelm Tell

Wahrscheinlich am bekanntesten von Rossini ist allerdings ein kurzes Stück in der Ouvertüre der Oper »Guillaume Tell« (Wilhelm Tell), seiner letzten Oper. Die Ouvertüre dauert 12 Minuten lang und soll das Leben in den Schweizer Bergen symbolisieren. »Der Marsch der Schweizer Soldaten«, das drei Minuten lange Finale der Ouvertüre in Form eines Galopps geschrieben, obwohl in der ganzen Oper keine Pferde vorkommen, entwickelte sich über die Jahrzehnte zum Symbol für reitende Soldaten, Wild-West Helden und anderes »männliches« Verhalten.

Die amerikanische Wild-West-Serie »The Lone Ranger«, die, bevor sie Film und TV erreichte, bereits 2500 Folgen im Radio hatte, benutzte den »Marsch der Schweizer Soldaten« für alle ihre Folgen. Johann Strauss Vater und Dmitri Schostakowitsch bauten die Melodie in ihre eigenen Kompositionen ein. In Walt Disney’s und anderen Zeichentrickfilmen wie Mickey Mouse, Bugs Bunny, Daffy Duck, Porky Pig und auch den Flintstones hatte der Galopp seinen fixen Platz und tauchte auch in hunderten Werbefilmen auf. Stanley Kubrick setzte ihn in »A Clockwork Orange« ein und der Hong Kong Jockey Club eröffnete damit seine Spiele gegen die Teams anderer Klubs. Der Basketball Klub der »Indiana University« spielte den Marsch, um seine Spieler anzufeuern, und Honda bewarb damit seine erfolgreiche Kampagne in den USA zur Einführung des Honda Civic.

Gioachino Rossini, von Étienne Carjat 1865

Der US-Psychologe Joan Meyers-Levy beschrieb den Galopp als ein Musikstück, das besonders Männer ansprechen würde und daher bei entsprechenden Produktwerbungen, Sportveranstaltungen und Western-Helden benutzt würde. Auch in der modernen Popmusik findet man die Melodie, wie bei DJ Shadow, der eine Hip-Hop Version daraus machte.

Doch viele andere Kompositionen von Rossini gerieten in Vergessenheit. Obwohl der Barbier eine der weltweit meist gespielten Opern ist, blieb sonst von dem einstigen »Mozart Italiens« nicht viel übrig. Deshalb ist es besonders eindrucksvoll, mit welch Begeisterung und Engagement Veranstalter und Publikum das »Rossini-Festival« planen, gestalten, organisieren und auch besuchen.

Als würden sich dort die »Anti-Salzburger« treffen, reisen jedes Jahr begeisterte Zuseher aus mehr als 40 Ländern nach Pesaro, dieser nicht besonders interessanten Stadt, die außerdem im August mit Badegästen komplett überfüllt ist. Man gibt sich leger, locker, freundlich, und pfeift auf VIP und die Abschirmung der »besonderen Gäste«. Beim Barbier saß ein weltberühmter Regisseur, der 88-jährige Pier Pizzi, einen Sitz weiter neben mir und sprang immer wieder vor der Aufführung auf, um Künstler und Musiker zu begrüßen, und andere kamen zu seinem Sitz und umarmten ihn. Minister und Politiker mischen sich unter die Zuseher, die mit dem Übernacht-Bus aus Süditalien kommen, um sich das Hotel zu ersparen, oder im Luxusquartier mit Meerblick wohnen. Etwa 15.000 Tickets verkauft das Festival jedes Jahr, und für einige besonders beliebte Aufführungen wird das Basketball-Stadion zu einem Opernhaus umgebaut.

Strand-Leben

Ein paar hundert Meter vom traditionellen Opernhaus im Zentrum der Stadt entfernt, erreicht man den Strand, mit den typischen Reihen bunter Strandliegen, die man für den Tag mieten kann, und für die man unterschiedliche Preise bezahlt, je näher sie zum Wasser sind. Wenn man Italien verstehen möchte, sollte man sich in das Strand-Café setzen und die Familien beobachten, die hier ihren Urlaub verbringen. Kinder, die mit großen Schaufeln Burgen im Sand bauen, dicke, schwerfällige Männer mit goldenen Halsketten, die nur bis zu den Knien ins Wasser gehen und dort in Ruhe eine Zigarette rauchen, und stolze Frauen, die vielleicht nicht mehr wie Sophia Loren aussehen, aber ihre knappen Bikinis mit einer bewundernswerten Gleichgültigkeit tragen. Vier ältere Frauen mit kurzen gefärbten Haaren spielen Karten im Café und lachen laut und haben ihre Männer längst vergessen.

Diese Stimmung überträgt sich abends ins Opernhaus und wird höchstens von ein paar deutschen Besuchern unterbrochen, die trotz der Hitze mit Sakko kommen, es längst ausgezogen haben und verzweifelt über dem Arm tragen. Ein paar Straßen weiter ein italienisches Restaurant, wo ein Ehepaar aus der Schweiz versucht, einen Tisch zu buchen, für einen Zeitpunkt, wenn die Oper zu Ende ist. Der Besitzer beruhigt sie, man brauche hier nicht zu buchen und das Lokal sei so lange offen so lange Gäste etwas bestellen. Gestern habe er die letzte Pizza um drei Uhr früh serviert. 

Vor Beginn der Oper sitzen in den Kaffeehäusern auf dem Platz vor der Oper die Musiker mit ihren Instrumenten, und in dem Restaurant ein paar Straßen weiter, das keine Sperrstunde hat, kann es passieren, dass nach der Aufführung am Nebentisch der berühmte Tenor mit ein paar Kollegen seine Pizza isst. Das Rossini-Festival hat etwas Ungezwungenes, fast Familiäres, und bietet dennoch höchstes künstlerisches Niveau.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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