BRÜSSEL, DIE KLEINE WELT DER GROSSEN EITELKEITEN

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Photo: Jacqueline Godany (cropped), © Alle Rechte vorbehalten

Meine Jahre mit Haider (5)

Die Europawahl im Oktober 1996 endete mit einem der größten Erfolge der FPÖ in der Geschichte der Partei. Innerhalb eines Jahres gewann sie im Vergleich zur Nationalratswahl etwa 5 Prozentpunkte an Stimmen dazu und erreichte 27,5 Prozent, nur wenige Stimmen weniger als die SPÖ. Sechs Mandatare bildeten die freiheitliche Fraktion in Brüssel, unter ihnen ein ehemaliger Richter, ein ORF-Journalist und ein Fitnesstrainer. 

Mit einer gewissen Begeisterung fuhren wir nach Brüssel, ins Zentrum der EU, und landeten dort in einer frustrierenden politischen Realität, denn niemand, absolut niemand wollte etwas mit uns zu tun haben. Selbst Abgeordnete des späteren Koalitionspartners ÖVP mieden uns, auch wenn sie uns gegenüber freundlich und höflich auftraten. Erschreckend die Kälte und der Ärger der Sozialdemokraten, die nicht nur Stimmen bei der Wahl verloren hatten, sondern im EU-Parlament gegenüber der ÖVP nur mehr die Nummer zwei waren. Es war kaum möglich, mit ihnen ein normales Gespräch zu führen, selbst das tägliche »Guten Morgen« klang bei ihnen wie Zahnpasta aus dem Mund gequetscht, als müsste sie jemand dazu zwingen.

Ohne hier einzelne Namen zu nennen, ergab das tragikomische Schauspiel des EU-Parlaments mit seiner damals beschränkten Entscheidungsfähigkeit und seinen zumeist sich selbst überschätzenden, unglaublich eingebildeten Parlamentsmitgliedern eine absurde Mischung aus einer kleinen Welt der Eitelkeiten in der großen Welt des EU-Parlamentsgebäudes.

Im Grunde genommen hatten wir Freiheitliche dort absolut nichts zu tun. Ausgeschlossen von allen Fraktionen und in einem wilden Haufen als »Fraktionslose« zusammengefasst mit anderen Abgeordneten, die ebenfalls niemand aufgenommen hatte, wurden wir bei der Verteilung von Ämtern, Aufgaben und Verantwortungen systematisch übergangen. Unseren Reden hörte keiner zu, wie wir abstimmten war völlig egal, da nur die großen Fraktionen die Ergebnisse beeinflussten, und in den einzelnen Ausschüssen, Arbeits- und Ländergruppen nahm uns keiner ernst.

Mich störte das nicht. Ich war nicht nach Brüssel gekommen, um hier Karriere zu machen oder politische Entscheidungen zu beeinflussen, sondern mich interessierten die Entwicklung Europas und die internationale Politik. Ich beobachtete die Vorgänge im Parlament wie ein Theaterstück, an dem ich als Zuseher und nicht als Schauspieler teilnahm. Während der wenigen Jahre, die ich zuhörte, wurden »Schengen« beschlossen, die Einführung des Euros und die Osterweiterung. Europa, mit all seinen politischen und kulturellen Unterschieden, drängte sich dort in einem Saal, und man konnte am Vormittag einem irischen Abgeordneten über die Probleme des Fischfangs zuhören und am Nachmittag einem griechischen Vertreter über dessen Meinung über das Urheberrecht. Mit meiner Sympathie für ein »Vereinigtes Europa« nach dem Vorbild der USA war ich zwar die Ausnahme unter den eher EU-kritischen Kollegen, das wurde jedoch akzeptiert als Ausdruck der Vielfalt innerhalb der Gruppe der FP-Abgeordneten.

In der Reihe vor mir saß Jean-Marie Le Pen, der sich von seinen Gefährten hofieren ließ und wie ein Sprössling des ehemaligen Kaisers von Frankreich auftrat. In dem halbrunden Kreis des Sitzungssaals saßen in den Reihen vor und hinter mir sozusagen die »Schmuddelkinder« des EU-Parlaments, weit weg vom Zentrum des Geschehens. Weit unten in der Nähe des Podiums in den vordersten Reihen saßen die Leiter der Fraktionen und andere einflussreiche Abgeordnete, die an ihrer Wichtigkeit zu ersticken schienen. 

Im Plenum sitzend musste ich oft an den EU-Wahlkampf denken, an die Diskussionen auf Straßen, Plätzen und in Gasthäusern. Den Unmut der Menschen, die sich ausgeschlossen fühlten aus der von den Wählern losgelösten Gesellschaft der politischen Prominenz, und klagten, dass ihnen niemand zuhöre und niemand für sie erreichbar wäre. Keiner in diesem Zirkus der Eitelkeiten mit theatralisch vorgetragenen Reden, Zwischenrufen und Schreiduellen schien je daran zu denken, wer ihn hierhergeschickt hatte, und wer sein Gehalt bezahlt. Mit wenigen Ausnahmen war mir diese Welt in Brüssel nicht besonders sympathisch. Ein paar Anekdoten aus meinem Parlamentsleben:

Erfahrung

Die österreichischen Abgeordneten trafen sich in der ersten Woche nach ihrer Wahl zu einem Abendessen und jeder stellte sich kurz vor. Nach dem oft langatmigen Aufzählen der eigenen Erfolge der einzelnen Mitglieder war der ÖVP-Abgeordnete Karl Habsburg-Lothringen an der Reihe, der seine Erfahrungen mit einem kurzen Satz zusammenfasste: »Meine Familie ist seit 800 Jahren in der Politik.«

Das Pferd in Grenoble

Nach dem Boykottbeschluss gegen die ÖVP/FPÖ-Regierung bat mich die Parteiführung in Wien, im EU-Parlament mit einer kurzen Rede darauf zu reagieren. Ich saß in meinem Zimmer in Brüssel und überlegte und überlegte, was man in zwei Minuten dazu sagen könnte, als die Meldung über die Agentur kam, dass bei einem Pferdeturnier in Grenoble der österreichische Teilnehmer ausgeladen worden sei – sozusagen als symbolischer Protest gegen die Regierung. Da es ein wichtiges Thema war, saßen relativ viele Abgeordnete im Saal. Ich sprach ruhig, langsam und unaufgeregt, und sagte, ich hätte eine Entgegnung gegenüber den Vorwürfen vorbereitet, doch kurz vor dem Verlassen meines Zimmers sei eine wichtige Meldung gekommen, die ich nun anstelle meiner Rede vorlesen würde:

»Der Gemeinderat von Grenoble hat entschieden, als Protest den österreichischen Teilnehmer auszuschließen. Es habe jedoch Diskussionen im Gemeinderat gegeben, ob diese Entscheidung auch fair wäre und so beschlossen die Vertreter, das Pferd einzuladen, unter der Bedingung, es würde sich unzweideutig von der Regierung distanzieren. Den Reiter jedoch wolle man nicht sehen.« Für einen Moment war es ruhig im Saal, dann begannen die ersten zu lachen. Ein Abgeordneter sprang auf und schrie, das sei eine Beleidigung des Parlaments und forderte den Vorsitzenden auf, er solle mich zurechtweisen. Es war der Abgeordnete der SPD, Martin Schulz.

Der Chauffeur

Nach dem Beitritt der ehemaligen Ostblockstaaten wurden vor den EU Wahlen verschiedene Persönlichkeiten des politischen Lebens als Parlamentsmitglieder entsendet. Jene, die aus Prag kamen, reisten oft über Wien und saßen im selben Flugzeug wie ich. In Brüssel holte uns ein Fahrer ab und brachte uns zum Parlament. Ich hatte ein paar Sakkos in meinem Büro in Brüssel und reiste meist in bequemer Kleidung. Bei einem dieser Flüge nahm ich nur eine kleine Tasche mit und der Fahrer bat mich, auf den Kollegen aus Prag zu warten, der einen Koffer abgegeben hätte. Nach ein paar Minuten kam der tschechische Kollege und trug tatsächlich einen Koffer, den er mir reichte, da der Fahrer im Anzug und ich im Pullover auf ihn warteten. Der Fahrer erschrak und streckte die Hand nach dem Koffer aus, doch ich drehte mich um und ging mit dem Koffer hinaus zum Parkplatz, der Fahrer und der Kollege hinter mir.

Der Tscheche versuchte ein Gespräch mit dem Fahrer auf englisch, der jedoch nichts verstand und nur grinsend mit den Achseln zuckte. Beim Auto öffnete der Fahrer den Gepäckraum mit der Fernbedienung, ich hob den Koffer hinein und setzte mich nach hinten, wo bereits der Kollege saß, der sich stotternd vor Schreck entschuldigte.

Das Arschloch

Otto von Habsburg, Abgeordneter der CSU, war eine der interessantesten Persönlichkeiten des Parlaments, seine Höflichkeiten und sein Stil waren unerreicht in diesem Haus der Bürokraten. Als ihn einmal ein Vertreter einer Linkspartei beleidigte, nannte er ihn zum Erstaunen aller ein »Arschloch«. Dieser regte sich furchtbar auf und forderte den Vorsitzenden auf, Habsburg zu ermahnen. Der Vorsitzende besprach die Angelegenheit mit seinen Assistenten und sagte, er müsse seine Reaktion auf den nächsten Morgen verschieben, wenn das Protokoll vorliege.

Am nächsten Tag erklärte er, im Protokoll von dem Ereignis nichts gefunden zu haben, daher könne er auch nicht reagieren. Habsburg fragte noch einmal nach, ob wirklich nichts im Protokoll stünde, und als der Vorsitzende verneinte, sagte Habsburg, dann müsse er es halt wiederholen, wandte sich an den Abgeordneten und sagte laut und für alle hörbar: »Sie sind ein Arschloch!«

Dies ist die fünfte von Peter Sichrovskys neun Erzählungen rund um die Zeit, in der er in der FPÖ aktiv war.

Teil 1: »Nur eine Frage«
Teil 2: »Dann müssen Sie halt auf mich aufpassen!«
Teil 3: »Und wenn’s schief geht, bist du schuld!«
Teil 4: Fremdheit in der eigenen Heimat
Teil 6: Der Höhepunkt des Erfolgs und denkwürdige Reisen
Teil 7: Meine Funktion als jüdische Angelegenheit
Teil 8: Diktatoren und ein Sonderkonto. Der Absturz.
Teil 9: Gescheitert. Das Ende und die Zeit danach.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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