»Ein Verlust für die EU und Großbritannien«
Gegenüber dem Nobelkaufhaus Harrods im Londoner Bezirk Knightsbridge südlich des Hyde Parks trafen sich viele Jahre lang die österreichischen Emigranten, die nach dem Krieg in London geblieben sind, in der Konditorei Gloriette, einem schmalen dreistöckigen Haus mit altmodischen Tischen und Sesseln in der oberen Etage und einer Vitrine mit Torten und Kuchen im Erdgeschoss, wie man sie in jedem Café in Wien finden konnte. Besitzer war die Familie Federer, die schon in Wien vor dem Krieg eine Konditorei hatte und während des Krieges in London in einer winzigen Wohnung Torten produzierte und sie direkt den Kunden zustellte.
Auch für mich war das Café Gloriette ein zweites Zuhause neben Wien. Ich verbrachte die Schulferien während meiner Kindheit in London. Die zwei Tanten meiner Mutter, also meine Groß-Tanten, weigerten sich nach Ende des Krieges – im Gegensatz zu meinen Eltern – nach Wien zurückzukehren, und so besuchte ich sie viele Jahre lang in den Sommerferien. Ein bis zweimal die Woche lud uns Tante Federer in ihr Café ein. Ich nannte sie die Konditorei-Tante und durfte mir unter den herrlichen Leckereien aussuchen, was immer ich wollte.
Viele Jahre später erzählte mir meine Mutter, die während der Kriegsjahre in London als Krankenschwester in einem Spital gearbeitet hatte, dass Tante Federer in ihrer Küche unter dem Tisch, wo sie die Torten zubereitete, einen Korb hatte, in den sie all das Geld warf, das man ihr für die Mehlspeisen zahlte. Sie habe es nie nachgezählt, erst als sie ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte, nahm dieser die Finanzen in die Hand, und sie eröffneten das berühmte Café Gloriette mit der noblen Adresse gegenüber von Harrods.
Das Gloriette blieb für mich ein Pflichtbesuch, wann immer ich nach London kam, bis ich vor etwa zehn Jahren sprachlos vor Enttäuschung vor einem libanesischen Restaurant stand an dem Ort, an dem früher die Federers ihre herrlichen Torten und Kuchen verkauften. Café Gloriette gab es nicht mehr und symbolisierte das Verschwinden einer Generation, die aus Wien vertrieben einst London zu ihrer Heimat gemacht hatten.
Die aristokratische Botschaft
Östlich von Harrods, nur etwa zehn Minuten zu Fuß, erreicht man den Belgrave Square, eine der nobelsten Adressen der Stadt mit den typischen vierstöckigen, weißen Gebäuden, einem Balkon im ersten Stock, der reich verzierten Außenfassade und immer kleiner werdenden Fenstern in den oberen Etagen. Nummer 18, Belgrave Square, beherbergt die Residenz des Österreichischen Botschafters im noblen Vorderteil des Hauses. Die Arbeitsräume der Botschaft liegen im rückwärtigen, modernisierte Anbau, wo auch die »Mews« sind, jene niedrigen Gebäude, wo einst die Kutschen eingestellt wurden und noch früher die Dienerschaft der noblen Familien Kühe hielt, um die Herrschaft täglich mit frischer Milch zu versorgen. Heute sind die »Mews« umgebaut in kleine, moderne Wohnungen, die aufgrund der hervorragenden Lage mitten in der Stadt oft mehrere Millionen kosten.
Betritt man die Botschaft nicht von der modernen Rückseite, sondern durch die schwere Eingangstür an der historischen Front, glaubt man sich in einen österreichischen Palast versetzt, etwa ein Nebengebäude des Schloss Schönbrunns. Doch es sind nicht nur das Gebäude und die Einrichtung, die an das alte Österreich erinnern. Der Assistent des Botschafters, der mich begrüßt, spricht ein Deutsch mit leicht ost-europäischem Akzent, und sein ruhiges, höfliches Gehabe passt eigentlich nicht zum modernen, hektischen London.
Am Morgen als ich die Botschaft betrat, fragte mich diese österreichische Kopie eines britischen Butlers freundlich, ob ich direkt aus Wien mit dem Früh-Flug gekommen wäre. Als ich nickte, meinte er, während er mir aus dem Mantel half, dann hätte ich ja noch gar nichts gegessen, und er werde mir ein paar Sandwiches bringen. Ich konnte es ihm kaum ausreden, und er bestand darauf, mir zumindest einen Teller mit Keksen zum Kaffee vorzubereiten.
Den Stiegenaufgang und die Beletage des Palais schmücken große Gemälde mit adeligen Persönlichkeiten aus der Kaiserzeit und das Mobiliar erinnert eher an das Hotel Imperial am Ring in Wien vor der Renovierung als an eine Botschaft. Botschafter Dr. Michael Zimmermann begrüßt mich, und wir setzen uns unter das Gemälde von Maria Theresia auf goldverzierte Stühle und eine Sitzbank mit dem obligaten roten Samtüberzug.
Es ist die zweite Amtszeit von Dr. Zimmermann in London, wo er bereits von 1999 bis 2004 das Kulturinstitut geleitet hatte. Das war keine einfache Zeit damals, erinnert er sich. Die Beziehungen seien während der Regierung Schüssel merklich abgekühlt. Desto wichtiger sei die Arbeit des Kulturforums gewesen, um einen kontinuierlichen Austausch von Künstlern und Wissenschaftlern zwischen Großbritannien und Österreich fortzusetzen.
Jetzt befinden wir uns in einer ganz anderen Situation, stellt er zufrieden fest. Bundeskanzler Kurz, der London zweimal während der EU-Präsidentschaft besucht hatte, sei hoch angesehen, und Großbritannien pflege seit der Brexit-Abstimmung die Kontakte zu den kleineren Ländern, die in der Vergangenheit eher vernachlässigt wurden.
Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Habsburg Monarchie und Großbritannien gehen bis zum 17. Jahrhundert zurück, und vor 150 Jahren, im Oktober 1866, bezog der damalige österreichische Botschafter das Haus Nummer 18, Belgrave Square, damals noch ein gewaltiges Palais mit mehr als 70 Räumen. Trotz der Unterbrechungen der Beziehung während des Ersten und Zweiten Weltkrieges, der Beschlagnahme des Gebäudes durch die britischen Behörden und einer teilweisen Zerstörung während der Bombardierung Londons durch die deutsche Armee, konnte im September 1948 die Österreichische Botschaft in dem renovierten Gebäude den Betrieb wieder eröffnen.
Aus den Nachbarhäusern sind die hier einst lebenden Aristokraten längst ausgezogen. Neben den Österreichern haben auf der einen Seite Portugal und Ghana und auf der anderen Brunei und Deutschland ihre diplomatischen Missionen eröffnet. Heute ist es ein wichtiges Zentrum für die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen und die 25.000 Österreicher, die in Großbritannien leben. Neben London bieten noch Honorarkonsulate in Birmingham, Manchester und Edinburgh ein regelmäßiges Service.
Etwa 300 Unternehmen aus Österreich investierten fast sieben Milliarden Euro in Großbritannien und beschäftigen 32.000 Mitarbeiter. Die industriellen Aktivitäten reichen vom beliebten Restaurant »Kipferl« in London bis zur hochentwickelten Technik des Autozulieferanten AVL-Listaus der Steiermark, der die Ingenieur-Zentren der Formel-Eins Werkstädten betreut, die in der Umgebung von London ihre Standorte haben.
Ein dichtes Netzwerk von österreichischen Organisationen verbindet die hier lebenden Österreicher und auch Briten, die den Kontakt zu Österreich suchen. Weitgehend unbekannt ist die britische Sektion des Alpenvereins mit etwa 15.000 Mitgliedern, begeisterte Wanderer und Bergsteiger, die mit ihren Beiträgen eine wichtige finanzielle Unterstützung für die Arbeit des Vereins in Österreich sind.
Die noch von Emigranten gegründete »Anglo-Austrian-Society« organisiert einen regelmäßigen Stammtisch, ein Schiwochenende in Tirol, veranstaltet Liederabende in Oxford und bietet Sprachkurse. Im »Austrian Club« treffen sich österreichische Expats, die in London arbeiten und ihre Erfahrungen austauschen, und die »Johann Strauss Society«, die neben Konzerten auch den »Wiener Ball« in London organisiert, wird von Thomas Strauss geleitet, einem direkten Nachkommen der Johann Strauss Familie.
Berühmte Österreicher
Einer der beliebtesten Österreicher in Großbritannien – in seiner eigenen Heimat kaum bekannt – ist der Darts-Spieler Mensur Suljović, den seine Fans »The Gentile« nennen. 2017 gewann er die »Champions League of Darts« in Cardiff und rückte auf den 6. Platz in der Weltrangliste vor. Die Begeisterung für Darts in Großbritannien ist beeindruckend. Die wichtigsten Tourniere werden live übertragen und zu manchen Wettkämpfen kommen bis zu zwanzigtausend Zuseher.
Im Fußball begeistert Marko Arnautović die Fans von West Ham United und mit Ralph Hasenhüttl bei Southampton FC schaffte es der erste Österreicher als Trainer in die Premier League.
Doch die wahrscheinlich wichtigste Persönlichkeit – wenn auch nur mit österreichischen Wurzeln – ist der 2011 verstorbene Maler Lucian Freud, ein Enkel von Sigmund Freud, der von vielen Kritikern als der bedeutendste britische Maler des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird. Seine Werke erzielen heute Preise von mehr 30 Millionen Dollar und sind aus keinem internationalen Museum mehr wegzudenken.
»Mein Werk ist rein autobiographisch. Es ist über mich selbst und meine Umgebung. Es ist ein Versuch eines Berichts. Ich arbeite über Leute, die mich interessieren, die ich mag und über die ich nachdenke, in Räumen, in denen ich lebe und die ich kenne. Ich könnte niemals etwas in ein Bild hineintun, was nicht aktuell vor mir liegt. Das wäre eine sinnlose Lüge, nichts als ein wenig Täuschung.“ Beschrieb er seine Art zu arbeiten. Berühmt wurde er mit der Darstellung von Menschen, die scheinbar unbeobachtet, völlig entspannt und zwanglos einfach daliegen, als wären sie allein im Raum und niemand würde sie beobachten.
Brexit
Doch das Gespräch mit Botschafter Zimmermann verweilt nur kurz bei sentimentalen Erinnerungen und berühmten Österreichern. Wir kommen sehr bald auf den Brexit zu sprechen und Dr. Zimmermann verbirgt nicht seine Enttäuschung über den bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der EU.
Es ist ein Verlust für beide, für die EU und Großbritannien, meint er. Seit der Abstimmung im Jahr 2016 sei der Zuzug von EU-Bürgern um zwei Drittel zurückgegangen – auch aus Österreich. Es gebe weniger Bewerbungen bei britischen Universitäten aus dem EU-Bereich und auch weniger Studenten aus Österreich kämen nach Großbritannien, wo einige der besten Universitäten der Welt sind. Es gebe einfach eine gewisse Unsicherheit, die Entscheidungen beeinflusse, meint er und fügt hinzu, dass er das bedaure.
Dennoch habe sich die Gesamtzahl der Einwanderer nichts verändert. Das bedeute, sagt Dr. Zimmermann, dass eine Abstimmung, die das Problem der Zuwanderung als wichtigstes Thema hatte, die Einwanderung von Europäern negativ beeinflusste, während der Prozentsatz der nicht-europäischen Emigranten zugenommen hat. Genau das hätten die Befürworter eines Austritts verhindern wollen.
Für Österreicher, die bereits in Großbritannien leben, werde sich nichts ändern. Der britische Innenminister habe Botschafter Zimmermann in einem persönlichen Gespräch in der Botschaft versichert, dass Großbritannien den bereits in England lebenden Österreichern das Bleiberecht garantiere. Die freundliche Zusage des Innenministers sieht in der Praxis so aus:
EU-BürgerInnen, die per 31. Dezember 2020 bereits 5 Jahre legal und durchgehend im Vereinigten Königreich leben, können weiterhin unbefristet bleiben und den »Settled Status« beantragen. Das bedeutet Zugang zu öffentlichen Mitteln, zum Gesundheits- und Pensionssystem. Jene, die bereits in Großbritannien leben, jedoch zu diesem Zeitpunkt die 5-Jahres-Periode noch nicht erreicht haben, bekommen einen »Pre-Settled Status«, der bis zum Ablauf der Fünf-Jahres-Frist gilt und dann in den »Settled Status« umgewandelt wird. Eine ähnliche Regelung wird auch den 15.000 Briten garantiert, die in Österreich leben.
All diese Zusagen gelten allerdings nur, wenn es zu einem Abkommen mit der EU kommt. Bei einem sogenannten »Hard Brexit« gilt zwar weiterhin die Zusage, dass EU-BügerInnen weiterhin in Großbritannien leben können, die genauen Bestimmungen sind jedoch eher verwirrend und ändern sich ständig.
Einen entscheidenden Unterschied wird es für Touristen geben, die länger als drei Monate im Land bleiben wollen. Während es dafür bisher für EU-BürgerInnen keine Beschränkungen gab, muss nach dem Austritt für einen Aufenthalt nach drei Monaten eine Aufenthaltsgenehmigung eingereicht werden.
All diese pragmatischen Regeln können nicht verhindern, dass sich das Verhältnis zwischen Österreich und Großbritannien ändern wird. Jubelmeldungen, dass UK-Unternehmen nach Österreich übersiedeln, um dort ihre europäischen Zentren zu gründen, sind immer nur die halbe Wahrheit, weil ebenso viele heimatliche Unternehmen sich aus Großbritannien zurückziehen werden. Easy Jet hat bereits 100 Flugzeuge ihrer Flotte in Wien registriert, Ryan Air die Laudamotion übernommen, und laut Botschafter Zimmermann sind zwischen zehn und zwanzig britische Unternehmen nach Wien übersiedelt. Anderseits gehen auch direkte Investitionen österreichischer Unternehmen in Großbritannien zurück.
Es gibt keinen Grund für Schadenfreude in der EU, und negative Auswirkungen auf die britische Wirtschaft würden einen direkten Einfluss auf die EU und natürlich auch Österreich haben. Alleine in der Autozulieferungsindustrie sind hunderte Arbeitsplätze in Österreich in Gefahr, wenn der Export deutscher Autos nach Großbritannien einbricht. Auch die EU-Beiträge der Briten müssten durch die anderen Mitglieder ausgeglichen werden. Bei Österreich könnten das mehrere hundert Millionen Euro sein.
Brexit ist und bleibt eine Niederlage für die EU und auch ein Symbol für das Scheitern eines Deutsch-Französischen Führungsanspruchs. Eine der grundsätzlichen Ideen der gruppendynamischen Psychologie sagt, dass ein Ausscheiden eines schwierigen Gruppenmitglieds die Gruppe nicht stabiler macht, auch wenn man sich das erhofft. Die Stärke einer Gruppe und deren Zusammenhalt zeigt sich im Umgang mit komplizierten und störenden Mitgliedern. Können diese integriert werden, stärkt es eine Gruppe. Werden sie eliminiert, oder scheiden sie aus freiem Willen aus, weil die Bedingungen für sie nicht mehr akzeptabel erscheinen, schadet es der Gruppe und sie wird instabiler – auch wenn das Ausscheiden scheinbar eine erhöhte Sicherheit verspricht.
Zuerst erschienen im FAZIT Magazin
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER