Antisemitismus, der einzig tolerierte Rassismus

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Tel Aviv

»Ihr könnt uns kreuzweise!«

Durch den Norden von London, einer Gegend mit einem hohen Anteil jüdischer Bewohner, Synagogen und koscheren Lebensmittelgeschäften, fuhr ein Konvoi von Dutzenden Autos. Junge Männer lehnten sich aus den Fenstern mit Palästinenser-Fahren und brüllten über Lautsprecher: »Tötet die Juden und vergewaltigt ihre Töchter!«

Ein Ereignis von Hunderten in den letzten Tagen. Wütende Demonstranten, die Juden in den Vororten von London, in der Nähe des Eiffelturms in Paris, vor der Akropolis in Athen und Herrn Moische Pischer in der Reihe der Wartenden vor der Bäckerei in Grinzing, um sich einen Topfengolatschen zu kaufen, für die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern verantwortlich machen. 

Die empörten Araber, Palästinenser, Türken und Iraner, die durch die Straßen europäischer Städte ziehen, haben verständnisvolle Unterstützer. Rolf Mützenich, Fraktionsführer der SPD im Bundestag, murmelte zwar die üblichen Klischees, dass Antisemitismus nicht akzeptiert werde in Deutschland, doch er ging sehr schnell dazu über, zu erklären, dass die Wut der Wütenden »verständlich« sei bei der Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Was die Juden in Berlin damit zu tun hätten, konnte er nicht erklären. Ex-Präsident Heinz Fischer ist immer einer der ersten, der Israelis kritisiert. Einer seiner interessantesten Kommentare war der Satz, Israel würde »unverhältnismäßig« auf die Angriffe der Hamas reagieren. Nicht bekannt ist, ob die israelische Armee inzwischen von Herrn Fischer erfahren hat, wie sie »verhältnismäßig« auf Raketen aus Gaza reagieren könnte.

Jahrzehntelang lag eine dicke Decke über den Vorurteilen gegenüber Juden, und Antisemitismus galt als akzeptiertes Tabu, über das so mancher Politiker stolperte. Ganz anders die Reaktionen auf das derzeitige Geschrei und die Drohungen der Demonstranten. Mit nahezu nobler Zurückhaltung bis hin zu Verständnis werden die Attacken verharmlost oder sogar entschuldigt. Kein Aufschrei, keine Forderung, Moscheen zu schließen, wo gegen Juden gehetzt wird, und kein Verlangen, jene auszuweisen, die als Flüchtlinge ihren importierten Judenhass ausleben – wie Arik Brauer es kritisierte.

Die Zeiten haben sich geändert

Doch die multikulturelle Einheitsfront, die Arm in Arm schreiend durch die Straßen marschiert, wird zwar verachtet, jedoch auch belächelt, wie das verzweifelte Rumpelstilzchen, das verärgert mit dem Fuß aufstampft. Die Zeiten haben sich geändert. Juden sind als Volk und religiös-kulturelle Minderheit keine Opfer mehr, wenn auch viele durch Attacken beleidigt und durch Anschläge verletzt und getötet wurden. Als israelische Kampfflugzeuge am Befreiungstag von Auschwitz das ehemalige Todeslager überflogen, erlebten Juden in der ganzen Welt dies als ein Symbol der neuen Identität und Selbstsicherheit. Das »Nie Wieder« erreichte eine neue Dimension.

Die Überlebenden wollten die Jahrzehnte nach dem Holocaust nützen, ließen ihre Kinder studieren, haben die Töchter nicht als Kinder zwangsverheiratet und die Söhne nicht mit Hass vergiftet. Sie gliederten sich in die verschiedenen Kulturen ein, versuchten keine Ausnahmen und Vorteile zu fordern und kultivierten das »Anders-Sein« wie einen bunten Mosaikstein, der in die Vielfalt der Gesellschaft passt. Die Fremdheit blieb, doch das Gemeinsame war wichtiger.

Das militärische, wirtschaftliche und intellektuelle Potential Israels übertrug sich weltweit auf das Bewusstsein der Juden. Israel ist heute nicht mehr der junge Staat, der nach der Gründung mit Müh und Not überlebte, sondern eine Konzentration an Kreativität und Umsetzungskraft wie kaum ein anders Land. Jene, die einen Boykott israelischer Waren fordern, dürften kein Mobil-Telefon verwenden, kein Uber-Taxi rufen, jede Mikro-Chirurgie ablehnen und kein Flugzeug mehr benutzen. In all diesen Produkten steckt israelisches Know-how.

Zu den wichtigsten Erfindungen gehören ›SniffPhone‹, eine Diagnosemethode, die anhand von Veränderungen des Atems Erkrankungen erkennt. Die Erfindung wurde 2018 von der EU-Kommission als »Most Innovative Project« ausgezeichnet. ›ReWalk‹ ist ein System, mit dem Querschnittgelähmte gehen können. Die Micro-Kamera ›PillCam‹ wird von Patienten geschluckt und überträgt den Film direkt auf einen Computer. Millionen von Patienten verdanken ihr Leben der Entwicklung der ›Flexible Stent‹, die Arterien öffnet und Blockaden verhindert. 

›Firewall‹ beschützt die Software vor gefährlichen Eingriffen, ›ICQ‹ war das erste System für die Sendung von Text-Messages, der erste USB Drive wurde in Israel entwickelt. ›Netafim‹ ist eine lebensrettende Erfindung, um bei wüstenartiger Bodenbeschaffenheit Landwirtschaft zu betreiben. Mit ›Watergreen‹ wird Trinkwasser aus der Luft gewonnen, und ›BioBee‹ hat ein System entwickelt, um gefährdeten Bienen zu retten.

›Mobileye‹, eine Entwicklung, die aus dem Militär kommt, wie auch ›Waze‹ haben einen Wert von mehr als 20 Milliarden Dollar und dienen der Navigation. Das neue Abwehrsystem, das Israel vor den Raketen der Hamas beschützt, wird von Saudi-Arabien an der Grenze zu Jemen eingesetzt.

Israel hat 12 Nobelpreisträger 

Trotz der Milliarden, die arabische Nachbarn mit Erdöl verdienen, schafft Israel die breitgefächerte Überlegenheit mit lächerlichen 8 Millionen Einwohnern. Ein Land so groß wie Niederösterreich und einer Bevölkerung wie Österreich wird von den Nachbarstaaten gefürchtet und der internationalen Industrie geschätzt und bewundert. Absolventen der wichtigen Universitäten, an denen zahlreiche Nobelpreisträger unterrichten, werden in den letzten Studienjahren von der Industrie umworben. Israelische Start-ups bekommen weltweit die besten Finanzierungen.

Zurückkommend auf die hysterischen Demonstranten und ihre Unterstützer muss die Gesamtsituation heute anders beurteilt werden als noch vor ein paar Jahrzehnten. Kein ernstzunehmendes Unternehmen kann sich leisten, die Erfindungen und Entwicklungen der Israelis zu ignorieren. Stillschweigend haben sich enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen Unternehmen aus China, Russland, Saudi-Arabien, Amerika und Europa, selbst der Türkei, mit Israel entwickelt. Vergessen wir die Sprechblasen der Politiker, der religiösen Fanatiker. Die realen ökonomischen Verhältnisse regieren die Welt. Hier wird pragmatisch und praxisbezogen agiert. Man überlässt die inhaltslosen Floskeln gerne anderen. 

Dennoch – wie gefährlich sind die Drohungen der Demonstranten, die unter dem Schutz der klammheimlichen Unterstützer durch die Straßen ziehen? Der Politiker, die einseitig Israel kritisieren? Die Verurteilungen durch die UNO? Schafft das nicht Ängste und Sorgen? Die Antwort ist einfach: »Ihr könnt uns kreuzweise!«

Ohne die Unterstützung der politischen Elite und der Medien müssen Juden und Israelis den Schutz übernehmen, selbständig die Sicherheit des Alltags garantieren. Uns Angst zu machen, liebe Demonstranten, funktioniert nicht mehr, und wenn ihr noch so laut schreit. Vielleicht werdet ihr auf der Straße einen Juden mit einer Kippa anspucken, eine Frau, die einen Davidstern trägt, belästigen, einen Rabbiner verfolgen und vielleicht werden Fanatiker unter euch einen Anschlag planen und versuchen, eine Synagoge zu stürmen. Alles schlimm genug, aber dennoch verzweifelte Kindereien, infantiles Gehabe einer Gesellschaft, die längst erkannt hat, dass sie den Anschluss an Gegenwart und Zukunft versäumt hat. 

Israel symbolisiert für viele Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung. Die Realität ist eine andere. Das junge Israel, noch keine 75 Jahre alt, hat bereits 12 Nobelpreisträger. Von allen Nobelpreisen, die seit Beginn vergeben wurden, fallen 23 Prozent auf die Winzig-Minderheit der Juden. Es ging und geht den Juden seit ewig um Wissen, Lernen, Forschung und Lösungen für Probleme zu finden. Gewalt bedeutet immer nur Schutz. Angst und Furcht haben keinen Platz mehr in unserem Alltag. Wir Juden haben uns schon erschreckt, viel zu lange, jetzt ist keine Zeit mehr dafür. Jetzt haben wir anderes vor.

Zuerst veröffentlicht in NEWS.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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