ALTE TRÄNEN

A

Schatten der Vergangenheit 

Vor ein paar Tagen fuhr ich mit dem Bus, dem 38A, von Heiligenstadt nach Grinzing mit den Kopfhörern in den Ohren, und in dem Durcheinander von eher zufällig geladenen Musikstücken auf meinem iPhone sang plötzlich ein mir bisher unbekannter Sänger namens Aled Jones das Lied »Did You Not Hear My Lady«, eine Adaption in englischer Sprache einer Arie aus der Oper »Tolomeo« von G.F. Händel.

Ich verlor mich aus dem Fenster schauend und wusste nicht einmal mehr, zwischen welchen Stationen der Bus fuhr, als ich mit Schrecken spürte, dass mir die Tränen herunterliefen, völlig überraschend und im Grunde genommen völlig grundlos. 

»Nicht schon wieder« war mein erster Gedanke, es ist doch nur ein harmloses Lied, nicht einmal eines, das mich an eine gewisse Situation erinnert, warum also dieser Ausbruch. Doch es passierte einfach, und nicht zum ersten Mal in den letzten Monaten. 

Vor mir lachten ein paar Kinder auf der Plattform, trugen bunte Rücksäcke, die scheinbar die Schultaschen aus meiner Zeit ersetzten. Ein Mädchen sah mich an, ihre Augen streiften mich nur, kamen zurück und sie starrte auf mein feuchtes Gesicht, stieß dann ihre Freundin an und sagte ihr leise etwas ins Ohr. Auch die Freundin sah mich jetzt an und ich konnte mir denken, was die beiden einander zuflüsterten. Ich versuchte zu lächeln und sprach wahrscheinlich ziemlich verwirrend für die beiden von den verdammten Allergien, die mich derzeit quälten, doch es war ziemlich klar, sie glaubten mir nicht und beobachteten fasziniert, wie hier im Bus ein älterer Mann vor ihnen stand, dem die Tränen herunterliefen.

Ein paar Wochen zuvor passierte es mir während eines Films, als ein einsamer Kämpfer, der als Soldat aus Afghanistan zurückgekommen war, nun bei der Polizei arbeitete und ein Mädchen beschützte, die ins Zeugenprogramm übernommen, natürlich verraten aber von meinem Helden vor den ausgeschickten Mördern des Verbrechers gerettet wurde. Ein lächerlicher Film, schlecht gespielt, mit einem schlechten Drehbuch und schlechten Schauspielern, doch als der Held zuletzt sich auch noch mit seiner ehemaligen Freundin versöhnte und mit dem geretteten Mädchen sozusagen eine neue Familie bildete, konnte ich mich nicht mehr kontrollieren, und es ging schon wieder los, ausgerechnet in der letzten Szene, sodass ich ziemlich lächerlich aussehend das Kino verließ mit den kritischen Kommentaren der anderen Zuseher im Ohr, was es für ein furchtbar mieser Film gewesen sei.

Es begann ungefähr mit meiner Pensionierung, als ich ein paar Jahre nach dem offiziellen Pensionsalter aufhörte zu arbeiten. In den Jahren zuvor hatte ich Schwierigkeiten, überhaupt zu weinen, selbst in Situationen, wo es alle rund um mich erwartet hätten, wie zum Beispiel beim Begräbnis meiner Mutter oder meines Vaters. Die Kombination Trauer und Weinen funktionierte bei mir nicht, Freude und Weinen schon gar nicht, es war unmöglich, es zu koordinieren und als ich im Kreissaal meine erste Tochter im Arm hielt, war mir ebenfalls nicht zum Weinen zumute. Da rührte sich nichts in meinen Augen, und es wollte einfach nichts herauskommen. 

Vor dem Grab meiner Mutter stand ich zwischen meinen Brüdern und meinem Vater, und wir lasen das Kaddisch, das Totengebet der Juden, aus einem kleinen Buch mit Lautschrift und lateinischen Buchstaben, weil wir es weder auswendig noch im Original lesen konnte. Mein Vater und meine beiden Brüder stockten immer wieder, verschluckten die Worte und wischten sich die feuchten Wangen ab. Nur ich las ruhig und scheinbar unberührt den Text. Zehn Jahre später starb mein Vater, und die Situation wiederholte sich, jetzt nur mehr mit meinen beiden Brüdern. Ich stand in einer Gruppe von weinenden Freunden und Verwandten und es kam, verdammt noch einmal dachte ich mir damals, nichts aus meinen Augen.

Im September letzten Jahres wurde vor dem Haus in der Praterstrasse im 2. Bezirk in Wien, in dem meine Großeltern wohnten, in den Gehsteig ein Stolperstein mit den Namen meiner Großmutter und der jüngsten Schwester meines Vaters gesetzt. Die Organisatoren ersuchten mich, ein paar Worte zu sagen, und ich las eine kurze Erzählung über das Leben meiner Großeltern, die in der Broschüre der Veranstalter publiziert worden war. Alles ging seinen geplanten Weg, doch als ich die Stelle im Text erreichte, wo beschrieben wurde, wie sie verraten, abgeholt und ermordet worden waren, konnte ich nicht mehr weiterlesen. Tränen schossen mir in die Augen, und mein Sohn Axel rettete mich. Er erkannte sofort, was passierte, nahm mir die Broschüre aus den Händen und las weiter. Ich verließ die Gruppe der Zuhörer, ging ein paar Schritte weg und ärgerte mich über mich selbst. Was war nur los mit mir?

Ich hatte zeitlebens den Ruf eines »Poker-Face«, der in schwierigsten Situationen immer ruhig und überlegen reagierte. Sollte daraus ein »Weich-Ei« geworden sein, das mit emotionalen Situationen nicht mehr fertig werden konnte? Früher hatte ich einen perfekten Schutzmechanismus, der oft die Grundlage meines Erfolgs war, meine strategische Reaktion auf Probleme und Überraschungen, und das sollte nicht mehr funktionierten? Plötzlich verriet ich mich, zeigte, was so gut beschützt und verborgen war, ein Verhalten, das ich im Grunde genommen bei anderen immer verachtet hatte, und es ärgert mich und macht mich unsicher. Ich verliere meine kontrollierte Souveränität, fühle mich verletzbar und schutzlos. 

Besonders trifft mich plötzlich nach all den Jahren das Schicksal meiner Großeltern. Die eine Großmutter, Mutter meiner Mutter, wurde von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und in den Gaskammern ermordet. Die andere, Mutter meines Vaters, gemeinsam mit meiner Tante von Wien nach Maly Trostinec verschleppt und dort erschossen. 

Die Bilder gehen mir nicht aus dem Kopf, die Vorstellung quält mich, und jedes Mal, wenn ich ein Foto des neu errichteten Denkmals in der Nähe von Minsk sehe mit den Namen meiner Großmutter und der Schwester meines Vaters, kann ich mich nicht mehr kontrollieren. Das Unvorstellbare quält mich und lässt mir keine Ruhe, egal wie lange es zurück liegt. Es verfolgen mich Fotos mit langen Gruben und Leichen, schießenden SS- und Wehrmachtssoldaten, nackte Frauen und Kinder, die am Boden kauernd auf den Schuss warten. Ich sehe die 17-jährige Schwester meines Vaters und denke an meine 17-jährige Enkeltochter, an die damals 50-jährige Mutter meines Vaters und sehe plötzlich meine Tochter, die heute genauso alt ist. Das Leben der beiden auf schreckliche Art und Weise völlig grundlos beendet. 

Ich verstehe es nicht, will es auch nicht verstehen, begreife die Mentalität der Schießenden nicht und scheitere, es zu verdrängen oder zu vergessen. Je älter ich werde, desto unversöhnlicher und verbitterter, dass man das unserer Familie angetan hatte. Und eine Trauer, die in unserer Familie nie angesprochen wurde, solange meine Eltern lebten, überkommt mich plötzlich und lässt mich nicht zur Ruhe kommen, als ob ich erst jetzt die Sprachlosigkeit meiner Eltern mit meinen Tränen ersetzen müsste.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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