ALLES NICHT WAHR

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Es gibt keinen neuen Antisemitismus

Wir leben doch einen ganz normalen Alltag. Haben etwas gelernt, vielleicht sogar studiert, einen guten Job, oder auch nicht, dann suchen wir eben einen, dennoch, niemand verfolgt uns offiziell, sozusagen als Behörde, niemand hält öffentlich Reden, in denen wir bedroht oder verdächtigt werden, aufgerufen wird, uns als Gefahr ernst zu nehmen, oder dass all die »Anderen« vor uns beschützt werden müssen. Nichts dergleichen passiert, warum also die Aufregung? Wegen der paar Kleinigkeiten? Gut, es ist vielleicht ratsam, seinen Sohn, wenn man schon darauf besteht, dass er eine Kippa trägt, nicht unbedingt in eine öffentliche Schule zu schicken. Es gibt ja auch jüdische Schulen und die sind weder verboten, noch werden sie finanziell ausgehungert. Sie bekommen genug von der Stadt, vom Staat und privaten Spendern. Und das bisschen Schulgeld werden wir uns auch noch leisten können. Ich weiß schon, was jetzt kommt, worüber mein Sohn sich zu Beginn aufgeregt hatte. Sie liege nicht um die Ecke, sei nicht zu Fuß erreichbar wie das normale Gymnasium, wo alle anderen hingehen würden, seine Freunde, die im selben Haus wohnten, oder in der selben Gasse, mit denen er am Spielplatz war und später in der Volksschule.

Aber seien wir doch ehrlich, so richtig hat er ohnehin nie dazugehört. Man ließ ihn halt mitspielen, aber kaum ging er nach Hause, waren die anderen froh, dass er weg war, hatte mir einmal ein Vater gestanden, weil er es gut mit mir meinte, als ich mich beklagte, dass ich meinen Sohn jetzt in einer Privatschule anmelden müsste. Und Fußballspielen konnte er auch nicht. Sie haben ihn immer ins Tor gestellt. Dort konnte er noch am wenigstens schaden. Unser Sohn ist halt nicht so sportlich. Aber das hat doch alles nichts mit Antisemitismus zu tun. Jetzt haben wir ihn aus dem Gymnasium genommen. Er sei angeblich nur die Kippa gewesen, dass er von den anderen Schülern ständig belästigt und sekkiert worden sei, sagte sein Klassenlehrer. Sie haben sie ihm vom Kopf geschlagen, auf den Boden geworfen und darauf herumgetrampelt, Wasser in seine Schultasche gegossen und bei der Sitzverteilung zu Beginn des Schuljahres wollte keiner neben ihm sitzen. Aber wirklich verletzt hat ihn niemand. Da kann man auch nicht von Mobbing sprechen. Das waren halt Bubenstreiche. Das hat’s immer schon gegeben. Und den Mädchen hat es angeblich gefallen, die haben alle gekichert und das hat die Buben noch mehr aufgestachelt. Deshalb ist es auch gut, dass er jetzt in eine andere Schule geht. Dort tragen alle Buben eine Kippa und es fällt nicht so auf und es sind auch keine Kinder aus türkischen oder anderen muslimischen Familien, die das halt nicht gewohnt sind, wie uns der Direktor erklärte. Man könne ihnen keinen Vorwurf machen, das wären Ansichten, die sie von zu Hause mitbrächten. Das seien doch gute Kinder, sagte der Klassenvorstand, und man müsse ihnen nur Zeit geben, bis sie unsere Kultur verstehen würden.

Als meine Frau in ihrem Bücherklub davon erzählte, sagten auch ihre Freundinnen, es sei doch viel besser, wenn er jetzt mit anderen Juden sozusagen unter sich wäre. Als Tina, meine Frau, darauf erwiderte, sie sehe nicht ein, warum ihr Sohn nicht wie alle Kinder eine normale öffentliche Schule besuchen könne, wussten die Freundinnen keine Antwort. Natürlich dürfe er, es gehe ja nicht um ein Verbot, meinte eine, man solle da nicht Übertreiben mit der Aufregung, es sei halt nur einfacher für die jüdischen Kinder. Das würden halt manche Kinder als Provokation verstehen, diese Kopfbedeckung der Juden. Dabei hatte die selbe Gruppe vor ein paar Wochen noch ganz aufgeregt darüber diskutiert, wie sehr Mädchen, die Kopftücher tragen, in Schulen diskriminiert werden würden. Eine der Frauen berichtete über einen Fall, den ihre Tochter erzählte, dass eine Lehrerin eine Schülerin kritisierte, weil sie sich weigerte, mit der Klasse ein bestimmtes Museum zu besuchen. Es seien dort Statuen mit nackten Frauen und Männern, und das widerspreche ihren religiösen Regeln. Und man stelle sich vor, berichtete die Frau in der Büchergruppe aufgeregt, die Lehrerin habe tatsächlich das Mädchen vor allen anderen kritisiert. Wahrscheinlich eine Rechte, eine von diesen rechten Parteien, sagte eine andere. Man müsse sie eigentlich der Direktion melden, solche Lehrer hätten in Schulen nichts zu suchen. Als meine Frau unruhig wurde und endlich mit dem Hinweis auf das Mobbing unseres Sohns das Gespräch unterbrach, meinte eine andere, das sei etwas anderes, und könne nicht mit dem Rassismus der Lehrerin verglichen werden. Wahrscheinlich wären die Kinder nur durch die Eltern beeinflusst, die sich natürlich Sorgen um die Palästinenser machen würden. Dann stand meine Frau auf und verließ die Wohnung, und kam nie wieder zurück zu dieser Gruppe, die sich einmal pro Monat trifft.

Aber ist deshalb unser Leben schlechter geworden? Sicher nicht, sie geht jetzt in eine Büchergruppe von Eltern der jüdischen Schule. Auch dort sprechen sie über die Bücher, die sie die letzte Woche gelesen haben. Kein Unterschied zur Gruppe vorher. Ganz ähnlich erging es mir. Ich spielte Tennis in einem Klub außerhalb der Stadt. Ich mochte den Klub, weil er mitten im einer bewaldeten Gegend lag und man während des Spiels keine Häuser sondern Wiesen und grüne Hügel sah. Nach den Spielen saßen wir immer in der Kantine und tranken ein Bier, sprachen über Gott und die Welt, und kein Thema wurde je ausgelassen. Ich nahm meine Kippa vor den Spielen immer ab, so streng bin ich auch nicht, und erst wenn ich mich ins Auto setzte, um nach Hause zu fahren, setzte ich sie wieder auf. 15 Jahre war ich dort Mitglied und das Judentum war nie ein Thema. Bis plötzlich vor ein paar Monaten jedes Mal, wenn wir nach den Spielen zusammensaßen das Gespräch auf, sagen wir mal, ein bestimmtes Thema kam. Es ging um Israel, wie die Armee dort unschuldige Palästinenser töten würde, dann wieder um Soros, der Europa destabilisieren möchte und natürlich Trump, der nur gewählt wurde, weil er von reichen Juden unterstützt worden war. Komisch, früher waren das alles keine Themen, doch jetzt schleichen sich diese Kommentare mit bestimmten Klischees in die Gespräche wie eine bunte Rauchwolke, die sich langsam ausbreitet. Und bei jeder dieser Bemerkungen kam wie das Amen im Gebet die Frage an mich: Na, was sagst du dazu, du musst dich doch da auskennen? Ich, der Fachmann für alle Angelegenheiten, die nach Ansichten meiner Tennisfreunde mit Juden zu tun hätten?

Vor ein paar Wochen wechselte ich den Klub. Jetzt spiele ich hier in der Stadt. Keiner kennt mich und keiner hat mich je gesehen, wie ich die Kippa im Auto vor dem Tennis-Klub herunternehme. Ich lass sie nämlich überhaupt zu Hause. Aber ich kann spielen, und das ist doch das Wichtigste. Und wenn sie über Israel sprechen, stellt mir keiner eine Frage, und ich mische mich nicht ein. Es hat mir auch in meinem alten Klub niemand verboten, dort zu spielen. So krass kann man die Situation von uns Juden nicht beschreiben. Das hat alles nichts mit den dreißiger Jahren zu tun. Auch dass wir jetzt übersiedelt sind in eine Gegend, in der einfach mehr Juden wohnen, hatte rein praktische Gründe für meine Kinder, die jetzt nicht mehr so weit zur jüdischen Schule gehen müssen. Gut, ich will nicht leugnen, dass mir die Aufschriften auf unserem Postkasten im alten Wohnhaus wie »Jude verschwinde« oder »Hitler was Great« nicht sehr gut gefallen haben. Es hat eher meine Frau nervös gemacht und unser Sohn ging einmal durchs Haus und hat in jedem Stockwerk gebrüllt: Ihr Arschlöcher!

Aber es hat uns nie jemand körperlich angegriffen, oder offen ins Gesicht gesagt, dass sie uns hier nicht wollten. Im Gegenteil, es gab auch immer jene, die sich dafür entschuldigten und meinten, das entspräche nicht den Meinungen der Mehrheit hier. Aber meine Frau bestand darauf, dass wir umziehen, nachdem der Hausmeister den Wutanfall meines Sohnes der Hausverwaltung gemeldet hatte und die uns einen Brief mit einer Verwarnung schickten. Kurz bevor wir auszogen, bestellten wir eine Pizza bei einem Italiener in der Nähe der Wohnung, die immer ein dunkel aussehender Bote brachte, dem ich ein Trinkgeld gab. Diesmal lag die Pizza vor unserer Tür auf dem Boden. Keiner hatte auf das Trinkgeld gewartet. Als wir die Schachtel in der Küche öffneten, sahen wir ein Hakenkreuz in die Pizza eingeritzt. Wir haben sie trotzdem gegessen. Meine Tochter, die etwas älter ist als mein Sohn, berichtete von einem Vorfall in einer Bar, als ein junger Mann, der neben ihr saß und im Laufe des Gesprächs erfuhr, dass sie Jüdin sein, in ihr Glas spuckte, und sagte, dass sei für die vielen ermordeten Palästinenser. Meine Tochter lässt sich so etwas nicht gefallen und verlangte den Manager, der ihr allerdings riet, in eine andere Bar zu gehen, da hier sehr viele Araber und Türken verkehrten, und er sie nicht verlieren möchte. Jetzt geht sie in eine andere Bar, wo viele ihrer jüdischen Freunde sich treffen.

Es gibt für alles eine Lösung. Wir können unsere Kinder aus den öffentlichen Schulen nehmen, in Gegenden ziehen, wo keine Araber und Türken wohnen, mit anderen Juden Tennis spielen und in Buchklubs mit den Eltern der jüdischen Schüler diskutieren, ein neues Bier bestellen, wenn der Speichel eines anderen Gast im Glas schwimmt und die Pizza auch mit Hakenkreuz essen. Schmeckt ja auch nicht anders. Also, was soll das alles mit einem angeblich immer schlimmer werdenden Antisemitismus zu tun haben? Meine Frau und ich sind hier geboren, hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und haben hier studiert. Wir können beide nur sehr wenig Hebräisch. Die Sprache hier ist unsere Heimat, so wie das Essen, die Musik, der Humor und die Landschaft. Wir kennen nichts anderes. Warum sollten wir von hier weggehen? Und, vor allem, wohin?

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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