(A-)MORAL DER KUNST

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Muss man Michael Jackson Songs jetzt löschen?

Vor ein paar Woche zeigte die britische TV-Station BBC eine Dokumentation über den Sänger Michael Jackson unter dem Titel »Leaving Neverland«. Erwachsene Männer beschrieben, wie sie vor vielen Jahren als Kinder von Michael Jackson missbraucht oder zu sexuellen Handlungen überredet wurden. Ein Monument der Pop-Kultur wird versucht, vom Sockel zu reißen.

Einen Tag nach dem Tod des Musikers schrieb ein damals weltberühmter Musikkritiker noch: »Es gab Ruhm, es gab Pop-Musiker und es gab die Unterhaltungsmusik, und über allem schwebte Michael Jackson.«

Doch die BBC-Dokumentation stieß das Genie in den Abgrund und beschrieb einen verzweifelten, perversen Mann, dessen abnormer Appetit auf Sexualität vor nichts Halt machte. Dabei waren die Vorwürfe nicht einmal neu. Bereits 1990 wurden Gerüchte veröffentlicht, dass Jackson einen Jungen namens Jordan Chandler missbrauchte, doch dem Management und den Anwälten des Stars gelang es immer wieder, konkrete Anklagen zu verhindern. 

Nach der Ausstrahlung der Dokumentation kam es wie erwartet auch zur Gegenreaktion seiner Fans, die argumentierten, dass alles nur Lüge sei, und geschickte Anwälte der angeblichen Opfer enorme Schadensersatzansprüche gegenüber den Erben stellen würden, und andere argumentierten, dass man die Person von der Musik trennen müsste und man als begeisterter Fan von Jacksons Pop-Songs nicht sein Verhalten entschuldigen würde. 

Entschuldigt die Leistung das kriminelle Vergehen, oder darf man sich für die Musik begeistern ohne die Verbrechen des Sängers zu verharmlosen? Ist ein Künstler anders zu bewerten als ein Schlosser, der sich zwar an jungen Buben vergeht, aber dennoch hervorragende Schlösser herstellt?

Wie weit geht die Identifizierung der Kunst mit dem Künstler? Muss jemand, der einen Song von Jackson hört, automatisch an die Verbrechen des Musikers denken? Muss jemand, der die Lieder des Pop-Stars auf seinem iPhone herunterlädt, an die missbrauchten Buben denken? In zahlreichen Ländern haben Radiostationen die Lieder von Jackson aus ihrem Repertoire gelöscht. Die Vertreter der Sender erklärten, dies sei keine Zensur, sondern man würde aus Respekt vor den Gefühlen der Opfer handeln. Ein nobles Verhalten für die einen, eine unzulässige Vermengung von Kunst und Künstler für andere, die beklagen, dass die moralische Zensur, die hier einsetzt, rein willkürlich gehandhabt werde.

Wie ist es dann mit den Gedichten von Ezra Pound, der den Faschismus verherrlichte, oder den Gemälden des Nazi-Verehrers Emil Nolde? Dürfen Buchhandlungen und Bibliotheken Mikhail Sholokhov’s Bücher anbieten nach seinem Verrat und der Denunzierung von Schriftsteller-Kollegen an den Sowjetischen Geheimdienst? Dürfen die Theaterstücke von Bertolt Brecht noch gespielt werden, nachdem er sich Jahrzehnte lang in den Dienst der DDR stellte?

Ein besonderes Problem bietet der Komponist Richard Wagner, der seinen Antisemitismus nicht einmal versuchte zu verbergen, und von Hitler und der Führungsriege der Nationalsozialisten geradezu vergöttert wurde, viele Jahre in Israel nicht gespielt wurde, bis man den Boykott aufgab. Auch von TS Eliot und Hilaire Belloc gibt es genügend Dokumente, die deren Abneigung gegenüber Juden zeigen. Dennoch sind sie heute anerkannte Künstler, deren Werke unabhängig von den Meinungen der Künstler bewertet werden.

Die gleiche BBC, die diese Dokumentation über Jackson produzierte, diskutiert derzeit die Entfernung einer Statue vor dem Eingang ihrer Zentrale in London. Der Künstler Eric Gill schuf sie. Als er 1940 starb, galt er als einer der berühmtesten und einflussreichsten Künstler seiner Generation, bis in einer neueren Biographie veröffentlicht wurde, dass er seine Tochter vergewaltigt hatte. Jetzt debattieren die Verantwortlichen im BBC Management, wie man einerseits eine Verbannung Michael Jacksons Musik aus den eigenen Radiostationen verantworten kann und anderseits täglich das Bürogebäude betritt und an einer Staue vorbeigeht, dessen Schöpfer seine eigene Tochter missbraucht hatte.

Müssen jetzt die noblen Parfum-Etagen der Einkaufstempel der Welt das »Chanel No 5« aus den Regalen nehmen, weil in mehreren Dokumentationen die Zusammenarbeit von Coco Chanel mit den deutschen Besatzungstruppen nachgewiesen wurde? Oder kann es sich jeder aussuchen, wo man die Grenzen setzt, die zu einem Zaun oder einer Mauer werden zwischen Schöpfer und Werk. 

In einigen Universitäten schafften es Studentengruppen, dass wichtige Werke der Weltliteratur und der bildenden Kunst aus dem Lehrplan genommen wurden, weil sich die Studierenden verletzt fühlten in ihrem Selbstverständnis, ihren Ansichten von Gleichheit und Freiheit oder über Sexualität. Politische Gruppierungen versuchen Namensänderungen von Straßen und Plätzen durchzusetzen, weil der Namensgeber entweder politisch oder sonst wie gesellschaftlich nicht den heutigen Ansprüchen von Normalität entspräche. Dabei geht es oft nicht um ehemalige Nationalsozialisten, die immer noch als Namensgeber aufscheinen, sondern um Schriftsteller, Musiker und andere Künstler, die zeitlose Kunstwerke schufen und plötzlich als Sünder entdeckt wurden.

Eine absurde Kunstzensur setzt ein, die das Kunstwerk nach dem moralischen Empfinden der heutigen Generation bewertet. Moralwächter, die meist keine Ahnung vom künstlerischen Wert eines kreativen Prozesses haben und sich daher ausgeschlossen fühlen aus der intellektuellen und fachlichen Diskussion über Kunstwerke, versuchen, sich über die ethische Bewertung des Schaffenden in die Diskussion zu schmuggeln. 

Vielleicht wird man in Zukunft als Kunstschaffender zuerst einen Lebenslauf vorlegen müssen, der von einer Moral- und Ethik-Kommission überprüft wird, bevor man sein eigenes Werk vorstellt. Wie verdammt langweilig ist unsere Welt doch geworden…


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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