Eine Million Afroamerikaner leben im Süden und Westen von Chicago unter oft ärmlichen und gefährlichen Bedingungen. Einmal pro Jahr gastiert ein Zirkus im Süden, den ich regelmäßig mit meinem Sohn besuchte.
»Komm, zieh dir die Schuhe an, ich habe eine Überraschung für dich«, sagte ich zu meinem jüngsten Sohn. Damals, vor fünf Jahren, war er sechzehn Jahre alt. Wir lebten in Chicago direkt am Lake Michigan, etwas nördlich vom Zentrum, und vom 18. Stock konnte man früh am Morgen die Segelboote beobachten, die den Hafen verließen, spät abends den Sonnenuntergang oder die schnellen Bewegungen der dunklen Wolken über dem See, wenn sich ein Gewitter näherte.
Chicago hat die Form eines Kipferl, entlang einem der vier großen Seen zwischen der USA und Kanada, mit den noblen Wohnblöcken an der sogenannten ›Gold Coast‹, dem Einkaufs- und Büroviertel mit architektonisch sehenswerten Hochhäusern im Zentrum, dem luxuriösen Norden, wo inmitten perfekt gepflegter Grünanlagen überladene, oft kitschige Villen in der Nähe des Sees stehen, die in manchen Hollywood Filme zu sehen waren, und dem chaotisch und deprimierenden Süden und Westen der Stadt mit einer der höchsten Mordrate in den USA.
Ich hinterließ meiner Frau einen Zettel mit den Worten: »Sind im Zirkus« und wir machten uns auf den Weg in den Süden Chicagos. »Du schleppst mich wieder in diesen Zirkus mitten im Viertel der Schwarzen«, sagte mein Sohn, und ich lachte und antwortete: »Stimmt, einmal pro Jahr musst du raus aus deinem Disneyland!«
Wir überquerten die Brücke über den Chicago River in Richtung Loop, dem Business District von Chicago, wo in den letzten Jahren ein Museum für Moderne Kunst eröffnet und im Millennium Park, dem größten innerstädtischen Park nach dem Central Park in New York, die eindrucksvolle Open-Air Bühne von der reichsten Familie von Chicago, der Pritzker-Family, gespendet wurde. Auf dem Gelände, wo noch vor hundert Jahren tausende Züge täglich in alle Ecken der USA und nach Kanada Fleisch aus den Schlachthöfen von Chicago transportierten, steht heute eine der schönsten Parkanlagen der USA. Hunderte Millionen wurden in die Erneuerung des Zentrums von Chicago investiert, und sie machten die Stadt zu einer der eindrucksvollsten Großstädte der USA.
Einen halben Kilometer südlich verändert sich die Stadt, als hätte man mit dem Flugzeug ein Land in Mittelamerika oder Asien erreicht und würde mit dem Auto vom Flughafen durch die Slums der Vororte zu den Luxushotels im Zentrum fahren. Auf geradlinigen Alleen mit Querstraßen, die nummeriert sind, fährt man an Häusern vorbei, deren Fenster mit Holzplanken vernagelt sind, manche Gebäude bis zum untersten Stockwerk abgebrannt, und offenen Türen mit schwarzen Rändern der verbrannten Mauern. Dazwischen immer wieder bewohnte Häuser, oder auch nur einzelne Wohnungen in den mehrstöckigen, roten Ziegelbauten, in denen ein paar Fenster Vorhänge oder Blumen Balkone schmücken, und gleich daneben eine Reihe von fensterlosen Löchern in den Mauern. Auf den unbebauten Grundstücken zwischen den Häusern liegt meterhoch Abfall, Papierfetzen fliegen herum, Bierdosen, Plastikflaschen, Teile von zerbrochenen Stühlen, Tischen und Sofas mit aufgeschlitzten Sitzflächen.
49 Schulen geschlossen
Ein großer Teil der mehr als einer Million Afroamerikaner, einem Drittel der Bevölkerung von Chicago, lebt hier auf engstem Raum unter miserablen Lebensbedingungen, einer reduzierten Infrastruktur mit wenigen Restaurants und Geschäften und einer mörderischen Kriminalität. Hier ist die Hoffnungslosigkeit längst zum Alltag geworden. In den letzten 15 Jahren hat die Stadtverwaltung 49 Schulen geschlossen. 70.000 Schüler/Innen, 88% davon Schwarze, müssen durch gefährliche Gegenden, um andere Schulen zu erreichen. Das sind mehr Schulkinder als in der Stadt Boston insgesamt zur Schule gehen.
2018 lag das durchschnittliche Familieneinkommen der Afroamerikaner bei 41.000 USD, bei den weißen Familien in anderen Stadtteilen waren es 70.000 USD. Der Besitzwert, das bedeutet Ersparnisse und Immobilien, lag bei Schwarzen bei 17.000 USD, bei Weißen 171.000, ein Verhältnis von 1 zu 10. Seit der Finanzkrise 2008 stieg das Einkommen der Weißen um 9 Prozent, das der Afroamerikaner um 3.4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt bei Weißen bei 4, bei Schwarzen bei 15 Prozent, die Lebenserwartung bei 74 im Gegensatz zu 78 Jahren bei Weißen.
Am letzten Wochenende im Mai dieses Jahres starben 24 Menschen durch Schusswaffen, 61 wurden verwundet. Im Bezirk Washington Park, wo übrigens der Zirkus gastiert, liegt die Mordrate bei 400 Toten/Jahr pro 100.000 Einwohner. In der gefährlichsten Stadt der Welt, in Tijuana, Mexiko, liegt sie bei 135/100.000 Einwohnern. Das Problem sind nicht nur Alltags-Rassismus und Aggressivität der Polizei, sondern Armut, schlechte Bezahlung und Benachteiligung bei Ausbildung, medizinischer Versorgung und Aufstiegschancen.
Wir näherten uns Washington Park, doch mein Sohn ahnte, dass wir nicht direkt zum Zirkus fahren würden und fragte: »In welchem verrückten Restaurant essen wir diesmal?« Ich musste wieder lachen und antwortete: »Wie gesagt, lass dich überraschen!« Er blies verärgert die Luft aus, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich brauch diese Abenteuer nicht, ich kenne genügend Schwarze und weiß, wie sie leben.« Während wir ausstiegen fragte ich ihn, wie viele Kinder in seiner Schule Afroamerikaner wären. Er besuchte die ›British-School of Chicago‹, und nach kurzem Nachdenken antwortete er, dass maximal zehn Kinder von den 500 Schülern Schwarze wären.
»Eben!« Sagte ich zu ihm, und er fragte mich: »Was meinst du mit ›eben‹?«
»Ein Drittel der Bewohner von Chicago sind Schwarze, und du hast keine Ahnung wie sie leben«, antwortete ich und konnte den vorwurfsvollen Ton nicht unterdrücken.
»Und du?« Fragte er, »Was weißt du von ihnen?«
Ich reagierte nicht. Wir betraten das Restaurant, auf dessen Eingangstür ›Breakfast-Luch-Dinner‹ stand und Teile der Buchstaben fehlten. Ein kleiner Raum mit einer Öffnung an der Rückseite, wo von der Küche das Essen herausgereicht wurde, mit vielleicht fünf oder sechs Tischen, rotweiß gestreiften Plastik-Tischtüchern und einfachen Holzsesseln. Ein Mann mit einer weißen Schürze grüßte uns freundlich und führte uns zu dem einzig freien Tisch. Als wir an einem Ehepaar vorbeikamen, zischte die Frau mit kurzen, grauen Haaren und dunkelrot geschminkten Lippen: »Crackers!«, einem nicht sehr freundlichen Wort für Weiße, doch der Ober hob die Hand und deutete ihr aufzuhören.
Wir aßen einen verdammt scharfen Eintopf mit Bohnen und Hühnerfleisch, ›Soul-Food‹, wie es in Chicago heißt und auf die Küche der Südstaaten zurück geht, und mein Sohn amüsierte sich, da ich scharfe Gerichte nicht leiden konnte.
»Geschieht dir ganz recht«, flüsterte er und grinste. Dann erinnerte er sich an die unbeantwortete Frage: »Was weißt du von Schwarzen in Chicago? Wie viele wohnen zum Beispiel in unserem Haus?«
Ich legte das Besteck weg und überlegte, benutzte die Pause, diesen scharfen Eintopf nicht weiter essen zu müssen. Unser Haus hatte vier Stiegen, 20 Stockwerke und zwei bis drei Wohnungen pro Etage, also etwa 200 Familien. Ich konnte mich an ein einziges schwarzes Ehepaar erinnern und sagte zu ihm: »Eine Familie von 200, die dort wohnen.«
»Ha, eben! Wir leben völlig getrennt voneinander, haben keine Ahnung von den Menschen hier im Süden, nicht nur ich, sondern auch du!« Sagte er laut, sodass andere Gäste zu uns herüber schauten. Er war noch lange nicht fertig.
Weiße spielen Tennis, Schwarze Basketball
»Und wie ist es in deinem Sportklub, wo du Tennis spielst. Wie viele Schwarze sind dort?« Fragte er. »Einer der Tennislehrer ist schwarz«, antwortete ich, fast schon triumphierend.
»Und wie viele spielen Tennis?«
Ich dachte nach, ging jede Gruppe in meinen Gedanken durch, zum Teufel, es war wirklich kein einziger Schwarzer darunter. »Keiner«, antwortete ich, »weder bei den Männern noch bei den Frauen«.
»Sind überhaupt Schwarze in deinem Klub?« Fragte er.
»Ja, beim Basketball, dort sind fast nur Schwarze«, sagte ich.
Er hatte recht, ich hatte tatsächlich keine Ahnung vom Leben der Schwarzen. Die Mitgliedschaft im Klub war nicht billig, und die, die dort Basketball spielten, kamen sicher nicht aus den Armutsvierteln hier im Süden. Wir wählten freiwillig unsere Klischees, die Weißen spielten Tennis, die Schwarzen Basketball.
Plötzlich sagte er: »Denk doch mal an die Restaurants, in die wir gehen. Schwarze parken die Autos, Mexikaner wischen die Tische ab und bringen Wasser, und Weiße nehmen die Bestellungen auf und servieren das Essen!« Mit einem Mal wurde mir bewusst, er war nicht mehr der Kleine, den ich mit Zirkusbesuchen belehren konnte.
Später, während der Vorstellung im Zirkus, begann es zu regnen. Ein Teil der Zuseher rückte von den Sitzreihen weg, wo das Wasser durch das Dach tröpfelte, und auf der Bank, wo wir saßen, wurde es immer enger. Mein Sohn und ich waren die einzigen weißen Gesichter in der Menge. Als die Clowns kamen, luden sie ein paar Zuseher ein, für ein Spiel nach vor in den inneren Kreis zu kommen, und eine junge Frau, die neben meinem Sohn mit ihrer Tochter saß, drängte uns, wir sollten uns doch melden. Doch weder mein Sohn noch ich trauten uns.
»Sei nicht so feig!« Sagte das Mädchen zu meinem Sohn. Sie war etwa gleich alt. »Ich bin nicht feig, aber ich will nicht«, antwortete er. »Du traust dich nicht, weil es um Tanzen geht, und ihr Weißen bewegt euch wie mit einem Stock im …« Ihre Mutter unterbrach sie und schimpfte, sie solle sich entschuldigen. Mein Sohn und ich lächelten verlegen und wollten eigentlich nur mehr verschwinden von hier. Unser kultureller Ausflug in das andere Chicago war diesmal schiefgegangen.
Am nächsten Tag berichtete ich John, dem Tennislehrer, über meinen Besuch im Zirkus. Er lächelte und erzählte, er sei selbst im Süden der Stadt mit seiner Mutter und den beiden jüngeren Schwestern aufgewachsen, ging schon mit Vierzehn nicht mehr zur Schule, weil er mit Drogen plötzlich Geld verdiente und sich tolle Turnschuhe und T-Shirts kaufen konnte. Als seine Mutter durch eine verirrte Kugel von der Straße aus im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzend schwer verletzt wurde, und er von der Tante, der Schwester der Mutter, übernommen wurde, zwang diese ihn, sich mit 18 zum Militär zu melden. Sie hatte keine Lust mehr, zusätzlich zu ihren vier Kindern auch noch ihn und seine Schwestern zu versorgen.
»Das hat mir das Leben gerettet«, sagte er, »Die meisten meiner Freunde aus der Straße, wo ich aufwuchs, leben nicht mehr.« Auf meine Frage, wo er denn jetzt wohne, antwortete er: »Immer noch dort, es gibt auch sichere Gegenden.«
»Wäre es nicht einfacher, in den Norden zu ziehen?« Fragte ich ihn.
»Einfacher vielleicht«, antwortete er, »Ich lebe gern dort, es ist billig und alles ist mir vertraut, man kennt sich und fühlt sich nicht wie der Schwarze in den weißen Vierteln, der es geschafft hat. Viele sind weggezogen. Aber selbst Obama, als er noch im Senat war, ist im Süden der Stadt geblieben.«
Wir verplauderten eine ganze Tennisstunde, die ich eigentlich gebucht hatte, um meine Rückhand endlich zu verbessern. John sprach von seiner Zeit bei der Polizei nach dem Militärdienst. Er blieb nur wenige Jahre und machte dann die Ausbildung zum Sport-Trainer. Bei der Polizei gäbe es ein teuflisches System, sagte er. Jeder müsse in gefährlichen Gebieten beginnen, da ältere Kollegen nach zehn Jahren das Recht hätten, in ruhigere Bezirke versetzt zu werden. Unerfahren und hilflos würden die jungen Polizisten auf Gewalt und Kriminalität reagieren, meist nervös und ängstlich sofort zur Waffe greifen, oder mit Brutalität auf harmlose Vergehen reagieren.
Vor ein paar Tagen telefonierte ich mit meinem Sohn, der inzwischen in Schottland auf der University of St Andrews studiert. »Als ich von den Demonstrationen in Chicago las, musste ich an unsere abenteuerlichen Zirkusbesuche denken«, sagte er, »die haben mir mehr geholfen, die Lage der Schwarzen zu verstehen, als Theorien und Analysen.«
Er beschrieb ein paar Erlebnisse, an die er sich erinnerte, und lachte immer wieder. Ich hörte ihm zu und dachte mir, das könnte einer dieser wenigen Tage sein, an denen man einfach zufrieden mit sich selbst ist.
Zuerst erschienen in NEWS.
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