Photo: Harry und Lotte Sichrovsky, geb. Kafka, privat
Richtig erinnern
Dieser Tage wurde erinnert. An den Anschluss Österreichs an Deutschland, den Einmarsch der deutschen Armee und an den Beginn der Demütigungen, Verhaftungen, Misshandlungen und Enteignungen eines Teils der österreichischen Gesellschaft. Bei fast allen Reden, Vorträgen und Präsentationen ging es um das Verhalten der Österreicher, deren Begeisterung für die Deutschen Besatzer, um das fanatische Hurrah gegenüber dem Nationalsozialismus und die Grausamkeit gegen die jüdische Bevölkerung.
Es wurde ein Bild gezeichnet und beschrieben, das ebenso falsch ist wie die Verharmlosungen der Verbrechen und das Verleugnen der Begeisterung. Vom ‚Wir wussten Nichts’ zum ‚Die damals waren alle Verbrecher’ ist es ein kurzer Weg und vielleicht nur die Kehrseite eines Klischees, das die eine Abwehrreaktion durch die andere ersetzt.
Ein Wetteifern mit Dramatisierungen und Pauschalierungen über das Verhalten der Österreicher, als ob eine Gesellschaft kollektiv über Nacht zu Verbrechern wurde, mit dem symbolischen Fingerzeig der gestreckten Hand, weit weg von sich weisend, als ob jene, die damals sich so verhalten hatten, am anderen Ufer eines Flusses standen. So sprechen Österreicher heute über Österreicher damals, als wären es Fremde, aber nie über sich selbst, über ihre eigene Familie, Verwandten oder Vorfahren der Freunde, des Ehepartners.
Absoluter Höhepunkt jeder Rede sind die Beschreibungen der Grausamkeiten gegenüber der jüdischen Bevölkerung, die hier nicht noch einmal wiederholt werden müssen. Das Bedauern und Beweinen der Leiden der Juden wird zur Messlatte der Anteilnahme. Nur wer das ausführlich und mit den richtigen Worten beschreibt, hat sich einen Platz unter den wahrhaftig Gedenkenden verdient. Sehen wir uns jene Juden an, deren Quälerei in den Reden verlebendigt wird, geht es entweder um Künstler, Industrielle, Wissenschaftler oder Intellektuelle, immer mit dem Zusatz, dass deren Ermordung und Vertreibung ein menschliches Loch in der Gesellschaft hinterlassen hätte, worunter Österreich noch heute leide.
Verloren und verschwunden
Doch wie immer, wenn es um Erinnerung geht, die Wirklichkeit war eine andere. 90 Prozent der Juden, die damals in Wien lebten, waren weder berühmte Künstler noch erfolgreiche Industrielle und auch keine Universitätsprofessoren. Sie waren meist arm, hatten zu viele Kinder, und lebten unter schrecklich einfachen Verhältnissen in der oft mystifizierten ‚Mazzes-Insel’ im 2. Wiener Bezirk auf engstem Raum mit Toilette und Wasser am Gang. Sie kämpften sich durchs Leben mit kleinen Geschäften, schlecht bezahlter Arbeit oder überhaupt nur mit Betteln. Selbst die, die man heute als Mittelstand bezeichnen würde, wie Beamte, Ärzte und jene, die es zu einem kleinen Geschäft gebracht hatten, lebten ein bescheidenes Leben, ohne Bedienstete, ohne Villa in Hietzing, noblen Urlaub am Semmering oder Überwintern in Meran.
Und es waren diese verarmten, mittellosen Juden, die kaum Möglichkeiten hatten, nach dem Einmarsch aus Österreich zu flüchten. Es halfen ihnen keine Beziehungen in Österreich und niemand im Ausland, der die notwendige Einladung schicken würde, mit der man ein Visum für die USA oder andere Ländern bekommen konnte.
Es waren die armen, einfachen Familien, die bleiben mussten. Sie waren es, die aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, sich in Kellern versteckten oder in den wenigen nicht-arisierten Wohnungen zu Dutzenden sich drängten bis sie abgeholt wurden. Wer kein Geld, keinen Schmuck oder andere Wertsachen besaß, konnte keinen Nachbarn bestechen, der ihn versteckte, keinen Passbeamten, der ihm Papiere besorgte und keinen Diplomaten, der ihm ein Visum ausstellte.
Niemand spricht heute oder sprach jemals von diesen Verlorenen, Verschwundenen, deren kümmerliche Habseligkeiten einfach aufgeteilt wurden, unter den Nachbarn oder den Polizisten, die sie abholten. Niemandem gehen oder gingen sie ab. Kein Buch erschien je über sie. Keine Dokumentation hat versucht nachzuweisen, wie viele Schneider, Schuster und Hilfsarbeiter damals ermordet wurden. Die wenigen, die Österreich beweint und heute noch vermisst, sind die Eliten, die für die Erinnerung ‚Auserwählten’, wie Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle, die sich entweder selbst umbrachten, in den KZs ermordet wurden, oder denen die Flucht ins Ausland gelang.
Dazu zwei weniger sentimentale Geschichten des Überlebens:
Meine Mutter flüchtete 1938, kurz vor dem Einmarsch, mit 16 Jahren aus Prag nach England. Sie hatte einen Österreichischen Pass, und ein Priester, ein Freund der Familie, gab ihr zur Sicherheit einen gefälschten, falsch datierten Taufschein, den sie dem Pass beilegte, und der sie durch alle Kontrollen rettete. Ihre Mutter blieb in Prag zurück mit zwei Kindern von Freunden, die bereits in London waren und eine geeignete Wohnung suchten. Sie sollte später mit den Kindern nachkommen, doch plötzlich war es zu spät, niemand kam mehr aus Prag heraus, und sie wurde mit den beiden Kindern in Auschwitz ermordet.
Mein Vater flüchtete mit zwei Freunden nach dem Einmarsch von Wien nach Belgien und weiter nach England. Er war 17 Jahre alt. Die drei jungen Männer versteckten sich auf den Toiletten im Zug bis sie an der belgischen Grenze verhaftet wurden. Mitten in der Nacht kam ein Offizier, sperrte die Zelle in der Grenzstation auf und sagte den dreien, sie sollten ihm folgen. Er fuhr sie mit seinem Auto in den Wald und zeigte ihnen den Weg nach Belgien. Seine Eltern und seine Schwester blieben in Wien. Er hat sie nie wieder gesehen.
Die Grundlage meiner Existenz ist die Missachtung der Vorschriften durch einen Priester und einen deutschen Offizier.
Ein Großteil der Familien meiner Mutter und meines Vaters verschwand einfach. Keine Gräber, keine Fotos, keine Ansichtskarten und keine Tagebücher, und vor allem keine Überlebens-Geschichten. Niemand von ihnen hatte ein Buch geschrieben, ein Bild gemalt, eine Fabrik gegründet oder einen Nobelpreis bekommen. Es gab nichts ‚Erinnerungswürdiges’. Sie wurden nicht vergessen, sie hatten nie existiert.
Sie waren ein absolutes ‚Nichts’, niemand außer den eigenen Familien vermisste sie. Meine Eltern bekamen nach dem Krieg nichts zurück. Irgendjemand saß an ihrem Esstisch und aß mit ihrem Besteck, aus ihrem Teller und bekleckerte ihr Tischtuch. Stöberte in ihren Büchern, die in dem Regal im Wohnzimmer hinter der Sitzgarnitur standen, wo sie mit den Eltern nach dem Abendessen saßen. Irgendjemand probierte vielleicht die Schuhe ihrer Eltern und den Anzug des Vaters, und warfen die Fotoalben weg und andere Erinnerungsstücke wie die Zeichnungen aus der Volksschulzeit, die die Mutter sorgsam aufgehoben hatte. Ganze Familien verschwanden mit all ihrem Hab und Gut von dieser Welt als hätte es sie nie gegeben.
Meine Eltern sind nie darüber hinweggekommen, dass sie als einzige überlebten. Sie fühlten sich für den Tod ihrer Eltern verantwortlich. Sie nahmen nie an Erinnerungsveranstaltungen teil, sprachen nie öffentlich über ihre Erlebnisse und erzählten auch uns, ihren Kindern, nichts.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich bis heute einen absoluten Abscheu vor all den Gedenk-Feierlichkeiten habe.
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Danke für den sehr berührenden Artikel. Der Tod ist nicht das Schlimmste. Schlimm ist die spurlose Auslöschung. Aber ich bin nicht pessimistisch. Viele interessieren sich ganz für sich und ohne Aufforderung und ohne öffentliche Organisierung für die Vergangenheit, auch für die sogenannten „kleinen Leute“, das eine Fundament jeder Gesellschaft zusammen mit den Eliten. Das öffentliche organisierte Gedenken ist nicht mehr als eine oft banale Pflichtübung.
P.S. Apropos Verschwinden im Nichts: es dürfte so etwas wie Verfall des jüdischen Friedhofs in Währing nicht geben.
Ich bedanke mich für Ihren Kommentar.
Ihre Schilderung und all das, was ich zu diesem Thema bereits gelesen habe, betreffen mich tief.
Von dieser Warte aus habe ich Gedenkfeiern noch nie betrachtet, aber möglicherweise sind sie mir aus den selben Gründen unsympathisch. In der „offiziellen“ Welt muss es immer etwas Hehres sein, das gelobt oder auch betrauert wird. Mir sind „einfache“ Menschen, ihr Leben, ihre Gedanken und Hoffnungen hehr genug …
Danke für diesen Artikel!
Trotzdem ich nicht voll zustimme, dass heute *niemand* mehr über jene spricht, die nicht prominent waren, die keine Künstler waren oder die es sich nicht richten konnten – es gibt übrigens sogar am Land Bestrebungen zur Aufarbeitung gerade dieser Geschichte „des kleinen Mannes“ (aber natürlich ist das nur ein kleiner Teil vom Ganzen) – verstehe ich nach dieser Lektüre sehr wohl Ihre Abneigung gegen Gedenkfeierlichkeiten. Ein ausgezeichneter Artikel, danke dafür!