Ein österreichisches Wahlkampf-Erlebnis
In den Wochen vor dem 3. Oktober 1999 bekam jeder EU-Abgeordnete der FPÖ einen Aktionsplan für den Wahlkampf. An manchen Tagen diskutierte man mit Gastwirten in Kärnten, dann wieder mit Arbeitern einer Molkerei in der Steiermark oder nahm an einem Volksfest in Tirol teil, in der ersten Reihe bei einer Tanzveranstaltung des örtlichen Trachtenvereins sitzend. Es war sozusagen der hautnahe Kontakt mit ‚unseren‘ Wählern, wie es die Parteileitung den angeblich verwöhnten Abgeordneten in Brüssel erklärte, die dort ‚abgehoben im Elfenbeinturm‘ des EU-Parlaments, weitgehend losgelöst von der Basis kaum mehr jene verstehen würden, die sie dorthin entsandt hatten.
An einem Mittwoch, glaube ich mich zu erinnern, wurde ich in ein Dorf ins nördliche Weinviertel geschickt, um dort am Hauptplatz Broschüren zu verteilen und Fragen über die EU zu beantworten. Die Zentrale versprach mir, eine Assistentin zu schicken, die eventuelle ‚kulturelle und sprachliche‘ Missverständnisse überbrücken würde und mir außerdem – wenn notwendig – die lokalen Eigenheiten erklären könnte.
Punkt sieben Uhr früh holte mich ein Fahrer ab, allerdings ohne Assistentin.
„Und wer übersetzt jetzt für mich?“, fragte ich den Fahrer.
Er drehte sich um und antwortete mürrisch mit einer Gegenfrage: „Wos manans?“
Ich sagte ihm, es sei alles in Ordnung, das sei nur ein Scherz gewesen. Er murmelte etwas Unverständliches.
Wir fuhren etwa eine Stunde von Wien nach Norden. Es regnete in Strömen. Die Straßen wurden enger, der Abstand von Häusern zu Häusern, die in kleinen Gruppen jeweils rund um eine Kirche ein Dorf bildeten, größer und größer. Nach der Fahrt durch die regnerische, einsame Landschaft drohte mir ein Besuch im wahrscheinlich letzten Dorf des Weinviertels.
Am Hauptplatz, eingekreist mit niedrigen einstöckigen Häusern und einem Gasthaus, stieg ich aus dem Auto. Irgendein Funktionär begrüßte mich. Er stand im Regen vor einem Tisch, der mit viel zu kleinen Schirmen vor dem feuchten Wetter geschützt wurde und auf dem die völlig durchnässten Broschüren lagen. Außer den drei Vertretern der lokalen Partei war niemand gekommen. Auf dem Tisch standen drei oder vier Teller mit kreisförmig aufgereihten Schmalzbroten, die ebenfalls nass waren, und in zwei Schüsseln lagen einzelne, feuchte Manner Schnitten, die man wohl vorher aus den Packungen genommen hatte. Der Vertreter der Partei begrüßte mich freundlich mit viel zu langen Sätzen und großen Abständen zwischen den Worten, sodass, bevor er mir endlich entschuldigend erklären konnte, dass wegen des Wetters leider niemand erschienen sei, auch ich völlig durchnässt war.
Ins Wirtshaus
„Gemma doch einfach rüber ins Wirtshaus“, schlug er endlich vor.
Seine Begleiter nickten, überließen den Tisch mit Schmalzbroten, Manner Schnitten und Broschüren dem Regen und nahmen die beiden Schirme, die alles beschützen sollten. Gemeinsam überquerten wir den Platz in Richtung Gasthaus. Ich war bereits so nass, dass ich auf das Angebot, mich unter einen der beiden Schirme zu drängen, verzichtete.
Der Gastraum war bummvoll. Das ganze Dorf schien sich hier versammelt zu haben. Ein paar Männer machten einen Tisch frei, rückten zur Seite oder wechselten zu einem anderen Tisch und man bat mich, Platz zu nehmen. „Mia ham schon was vorbereitet“, flüsterte mir der örtliche Obmann ins Ohr, und wenig später stand ein Glas Bier vor mir, und ein Teller mit Aufschnitt und Brot.
Man stellte mir die üblichen Fragen über Brüssel. Warum dort alle so korrupt seien, warum so viele Beamten dort arbeiten würden, und warum es keine höheren Subventionen für die Bauern gäbe. Ich antwortete so gut es ging und erlebte, was ich immer bei diesen Veranstaltungen erlebt hatte – es hörte mir ohnehin niemand zu. Nach dem offiziellen Teil, sozusagen in der intimen privaten Runde, sprach man auf unserem Tisch über den Krieg. Auch das hatte ich erwartet. Mit mir wollten immer alle über den Krieg sprechen.
„Die Großmutter hamma verstecken müssen“
Ich sah manchmal auf die große Uhr, die über der Schank hing, und überlegte, wie ich wegkommen könnte, als sich ein kleiner, älterer Mann mit dichtem weißen Haar, der am Nebentisch saß, neben mich drängte und mir ins Ohr flüsterte:
„Die Großmutter, die hamma verstecken müssen.“
„Was meinen sie damit“, fragte ich ihn.
„Der Gendarm ist einmal am Nachmittag gekommen, mit einer Liste, und sagte, er habe den Auftrag, die Großmutter abzuholen.“
„Was für eine Liste soll das gewesen sein?“
„Die hat die Gendarmerie von Wien bekommen. Alle, die auf der Liste standen, mussten nach Wien geschickt werden.“
„Und? Was ist passiert?“
Ich wurde plötzlich neugierig.
„Sie war nicht zu Haus, sie war beim Arzt. Das hat ihm der Großvater gesagt. Der Gendarm hat gemeint, das sei schon in Ordnung, aber er müsse morgen Nachmittag noch einmal kommen, und zwar um Punkt 16.00 Uhr würde er hier sein. Und dann zwinkerte er leicht mit einem Aug. Der Großvater fragte ihn noch, warum er denn die Großmutter abholen müsse, und er erklärte ihm, sie sei wahrscheinlich irrtümlich auf einer Liste der abzuholenden Juden. Er kenne sie doch und jeder im Dorf wisse, dass das ein Fehler sein müsse.
Die beiden fingen an zu streiten. Die Großmutter sei getauft und würde jeden Sonntag in die Kirche gehen, schrie mein Großvater den Gendarmen an. Dieser nickte verlegen und antwortete, er kenne ja die Großmutter. Das alles müsse ein Missverständnis sein. Aber, er habe den Auftrag bekommen, und sie stehe auf der Liste. Ich war damals vierzehn Jahre alt, stand hinter dem Großvater und hatte alles gehört. Als der Gendarm weg war, fragte ich den Großvater, ob das wahr sei mit der Großmutter.
‚Verschwind und kümmer dich um deinen eigenen Dreck!‘, schrie der Großvater. Ich versuchte es mit meinem Vater, der draußen am Feld war und fragte ihn beim Abendessen, warum man die Großmutter abholen wollte. Doch außer einem ‚Halt den Mund‘, war von den beiden nichts zu erfahren.
Am nächsten Nachmittag kam der Gendarm um Punkt vier Uhr und mein Großvater sagte ihm, die Großmutter sei leider wieder nicht zu Hause. Das wiederholte sich ein paar Wochen lang fast täglich, bis er nicht mehr kam.“
„Konnten sie später feststellen, warum ihre Großmutter auf dieser Liste war“, fragte ich ihn.
„Nein“, sagte er. „Niemand wollte darüber sprechen und ich hab mich nicht mehr getraut, zu fragen. Nur einmal, nach dem Krieg, kam der Gendarm und zeigte uns die Liste. Es waren wirklich die Juden in unserer Umgebung, dabei gab’s doch bei uns kaum welche.“
Was denn die Großmutter dazu gesagt hätte, wollte ich noch wissen.
Die habe immer nur gesagt, sie wolle nicht darüber sprechen.
Eine jüdische Mutter
Komische Geschichte, dachte ich mir damals und fragte den Bauer, ob es die Großmutter mütterlicherseits oder die Mutter des Vaters war.
„Die von der Mutter“, antwortete er.
Ich musste lachen.
„Gratuliere“, sagte ich zu ihm.
„Für was, ich hab‘ nichts dazu getan, ich war ein kleiner Bub damals.“, sagte er.
„Sie sind Jude, das geht nämlich über das Judentum der Mutter. Daher ist ihre Mutter Jüdin und auch Sie sind Jude. Falls das hier einmal schief geht mit der Landwirtschaft, können Sie jederzeit nach Israel auswandern und werden dort mit offenen Armen aufgenommen.“
Er lachte laut auf, hielt sich dann die Hand vor dem Mund und starrte mich mit weit geöffneten Augen an. „Na! Das gibt’s ned! Die war doch getauft und katholisch. Das gibt’s ned!“, sagte er immer wieder, immer lauter, und schüttelte den Kopf.
„Das bedeutet nichts im Judentum. Mit einer jüdischen Mutter bleibt man ewig Jude“, sagte ich ihm und konnte mein Lachen nicht mehr zurückhalten. Bis sich andere Männer einmischten und fragten, um was es denn ginge.
„Des glaubt’s ihr alle nicht!“, rief er, stand von seinem Sessel auf und begann im Gasthaus auf und ab zu gehen.
„Was haben Sie denn mit dem Loisl gemacht, der dreht ja völlig durch?“, fragte mich einer der FP-Funktionäre.
„Das müssen Sie ihn selbst fragen“, antwortete ich ihm. Entschuldigte mich dann, dass ich noch andere Orte besuchen müsste, verabschiedete mich, und ging hinaus in den Regen.
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