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Sebastian Kurz soll die ÖVP retten
Für seinen Rücktritt verdient Reinhold Mitterlehner Respekt. Erstens, weil er zurückgetreten ist, ohne dass er sich persönlich irgendetwas zuschulden kommen lassen hätte. Und zweitens, weil er mit dem Zeitpunkt den Parteifreunden seine Rache kalt serviert hat. Merke: nicht jedem kann man jede Demütigung zumuten. Angesichts zu maskenhaften Sprechrobotern erstarrter Politiktreibender eine fast schon berührend menschliche Regung. Freedom is just another word for nothing left to lose.
Denn zweifellos waren es nicht der Regierungspartner und – auch wenn Wolfs ‚Totengräber‘-Moderation skandalös war – nicht die Medien, die der unmittelbare Anlass für Mitterlehners Abschied waren. Beides gehört zum Tagesgeschäft, das einen alten Hasen wie Mitterlehner nicht aus der Fassung bringen könnte, so unangenehm es auch sein mag. Der entscheidende Satz in seiner launigen Rücktrittserklärung lautet: „Ich bin kein Platzhalter, der auf Abruf agiert, bis irgendjemand Zeitpunkt, Struktur und Konditionen festlegt.“
Die quälende Demontage Mitterlehners begann im April 2016 mit der Installation Wolfgang Sobotkas als Nachfolger der glücklos agierenden und sichtbar überforderten Johanna Mikl-Leitner im Innenministerium. Zwei Wochen vor der Bundespräsidentschaftswahl demonstrierte der Landesfürst, wer wirklich die Macht im Staate hat. Die einzige sichtbare Qualifikation Sobotkas für seine neue Position war, dass Pröll ihn dort haben wollte. Das reichte in der ÖVP, das reichte in Österreich. Wohlgemerkt, mitten in der Flüchtlingskrise ging es damals um das operativ wichtigste politische Amt des Landes. Selten wurde einem unverhohlener vor Augen geführt, wovon – abgesehen von ein paar Funktionären – die Menschen in diesem Land die Nase gestrichen voll haben. Zur Einschätzung der Beliebtheit der Regierungsparteien sei an dieser Stelle das Ergebnis ihrer Kandidaten bei der darauffolgenden BP-Wahl in Erinnerung gerufen: Hundstorfer 11,28%, Khol 11,12%.
Der 47. Neuanfang
Dann kam Kern. Der neue Kanzler hielt eine mitreißende Antrittsrede, Mitterlehner replizierte kaum minder eindrucksvoll. Der gefühlt 47. Neuanfang der rot-schwarzen Koalition.
Mit dem Schwenk in der Flüchtlingspolitik stieg Sebastian Kurz zum populärsten Politiker des Landes auf. Sein Talent ist ebenso offensichtlich wie unbestreitbar. Er hat gezeigt, dass man die Themenführerschaft der FPÖ auch auf ihrem Spezialgebiet brechen kann, wenn man eine Position stringent argumentiert, ohne die Grenzen des gesellschaftlich und politisch Akzeptierten zu verlassen. Ein bleibendes Verdienst, wie immer man inhaltlich dazu stehen mag.
Wäre die ÖVP eine vernunftgesteuerte Partei, hätte sie sich nach dem Antritt Kerns nur darauf konzentrieren müssen, konstruktive Regierungsarbeit zu leisten. Bis entweder Kern Neuwahlen ausgerufen hätte oder die Legislaturperiode ausgelaufen wäre. Dann hätte Kurz die Partei geordnet übernehmen, erneuern und persönlich unbeschädigt in den Wahlkampf führen können. Doch die ÖVP wäre nicht die ÖVP, wenn sie rational agieren würde.
Mitterlehners Rücktritt kam für Kurz zum schlechtest möglichen Zeitpunkt. Er kann sich nicht mehr auf seine populären Positionen in seinem unmittelbaren Aufgabenbereich beschränken. Regierungsarbeit schwächt ihn, weil er sich abnützt. Sich ihr zu entziehen schwächte ihn noch mehr, weil man sich nicht als Bundeskanzler empfiehlt, wenn man sich aus der Verantwortung stiehlt. Eine nachhaltige Umstrukturierung der ÖVP werden die Granden der Partei kaum zulassen. Woher der Wind weht, hat der steirische Landesobmann Schützenhöfer schon am selben Abend klargemacht: “Über all das kann man reden”, meinte er. Es habe schon einige Parteichefs mit Durchgriffsrecht gegeben, “das zählt am Ende nicht”, interessant sei nur, wie jemand Politik macht. Im Klartext: die Garantien und Vollmachten, die Kurz fordern und bekommen wird, sind im Fall einer Wahlniederlage ungefähr so viel wert wie die Maastricht-Kriterien in der Finanzkrise.
Der Spin
Kurz wird also schnellstmöglich Neuwahlen vom Zaum brechen. Dabei ist die SPÖ in der besseren Position. Kerns Spindoktoren werden den Kanzler als verantwortungsvollen, erfahrenen Manager präsentieren, der sich in den Dienst des Landes stellt und dafür sogar Einkommenseinbußen in Kauf genommen hat. Dem wird Kurz gegenüber gestellt, als jemand, der sein Leben lang nichts anderes gemacht hat als für die ÖVP zu arbeiten, und jetzt aus bloßer Machtgier die Koalition gesprengt hat. Wie die Wähler an der Urne darauf reagieren werden, weiß niemand. Zumal sich ÖVP, SPÖ und FPÖ in der Frage, der Kurz seine Popularität verdankt, nämlich jener der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, nur mehr marginal unterscheiden.
Für welche taktische Variante sich die ÖVP in der Wahlkampfphase entscheiden wird, ist nebensächlich. Der plötzliche Rücktritt Mitterlehners trifft sie hart und schwächt den einzigen konkurrenzfähigen Spitzenkandidaten, den sie hat. Gut möglich, dass Mitterlehner damit seiner Partei einen letzten Dienst erwiesen hat: Die Chancen, dass sich Kurz mit einer neuer Bewegung, zum Beispiel mit Griss, von der ÖVP löst, sind aufgrund des Zeitdrucks unter dem er jetzt steht, gesunken. Obwohl das für das Land mit seinen unauflösbar verkrusteten Parteistrukturen und für Kurz selbst die vielversprechendste Alternative wäre.
Alles deutet darauf hin, dass Kurz die ÖVP übernehmen und Neuwahlen ausrufen wird. Wie ernst es ihm und der ÖVP mit dem Umbau der Partei wirklich ist, wird man daran sehen, ob er sich von der „intellektuellen Laientruppe“, den „Funktionärslemuren“, „Bünde-Dinosauriern und Landesverwesern“ (© Rainer Nowak), befreien kann. Wer 30 Jahre ununterbrochen an der Regierung ist, ist auch für jeden einzelnen Missstand in diesem Land mitverantwortlich. Da braucht es mehr als einen neuen Obmann, um glaubhaft Veränderung zu signalisieren.
Von Leuten wie Sobotka, die weder in der Lage noch willens sind, das Interesse ihrer Partei über ihr eigenes Machtbedürfnis zu stellen, kann niemand annehmen, dass sie auch nur eine Sekunde lang das Interesse des Landes über das Interesse ihrer Partei stellen würden. Es ist dieser Schlag Politiker von schwarz und rot, die Österreich an den Rand des Abgrunds geführt haben. Schwer vorstellbar, dass die Wähler sie damit beauftragen werden, es noch einen Schritt weiter zu führen. Die Wahl gewinnt, wer am besten ‚Change‘ vermittelt und die Wähler nicht verschreckt. H.C. Strache trägt jetzt eine Brille und seriöse Anzüge. Leicht möglich, dass das reicht.
Einem so begabten Politiker wie Kurz ist es zuzutrauen, sich in einer Volkspartei durchzusetzen, die ohne ihn knapp vor oder hinter den Grünen landen würde. Wenn er die Partei übernimmt, ist er jedenfalls zum Sieg verdammt. Käme rot-blau, müsste er seine Partei nach dreißig Jahren Regierungsmacht in die Opposition führen. Dann würde er unsanft an das Schicksal seiner Vorgänger erinnert werden:
Das Problem der ÖVP ist seit vielen Jahren, dass sie sich von einem Mann ein Wunder erhofft.
Josef Riegler, bei seinem Rücktritt 1991