Eine österliche Meditation über säkularisierte Erlösungsfantasien und weltliche Ersatzreligionen
Am Ostersonntag des Jahres 1964 schrieb Rudi Dutschke, wenige Jahre später der große An- und Wortführer der Studentenrevolte in Westdeutschland, folgende Sätze in sein Tagebuch: »Jesus ist auferstanden, Freude u[nd] Dankbarkeit sind die Begleiter dieses Tages; die Revolution, die entscheidende Revolution der Weltgeschichte ist geschehen, die Revolution der Welt durch die allesüberwindende Liebe. Nähmen die Menschen voll die offenbarte Liebe im Für-sich-Sein an, die Wirklichkeit des Jetzt, die Logik des Wahnsinns könnte nicht mehr weiterbestehen.«
Dieser Tagebucheintrag überrascht, weil man Dutschke und „die 68er“ für gewöhnlich nicht mit Religion in Verbindung bringt. Und doch lassen sich bei ihnen relativ leicht religionsartige Antriebsmotive und Verhaltensweisen feststellen. Etwa in der Verehrung von Che Guevara – schon rein optisch eine Jesusgestalt, ein Märtyrer mit wilden, langen Haaren und Bart, der für Gerechtigkeit auf Erden kämpfte und von der Obrigkeit getötet wurde.
Dass die Säkularisierung der Gesellschaft als Folge von Aufklärung und Industrialisierung den Einfluss der Kirchen zurückgedrängt hat, steht außer Frage. Doch das Religiöse in seiner vielgestaltigen Form lebt in Kultur und Gesellschaft und auch in den Menschen selbst fort und streift sich dabei oft nur ein weltliches Gewand über. Mit besonderer Vorliebe ein politisches Gewand.
Die politischen Religionen
Der konservative Philosoph und Politikwissenschaftler Eric Voegelin hat in seiner, erstmals 1938 in Wien erschienenen Schrift ‚Die Politischen Religionen’ die großen Massenbewegungen Faschismus, Kommunismus und Nationalsozialismus als Ersatzreligionen charakterisiert, die angefangen bei der Messiasfigur des „Führers“, „Duces“, „Großen Vorsitzenden“ Glaubensgemeinschaften nachahmten und ihren Anhängern in einer — im wahrsten Sinne des Wortes — heillosen Lage Erlösung versprächen. Und eine Art paradiesischen Endzustand — anders als Religionen aber nicht erst im Jenseits, sondern bereits hier auf Erden (was zwangsläufig kläglich bis katastrophal scheitern muss).
Schon vor Voegelin hatte sich der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt Anfang der 1920er Jahre eingehend mit ‚Politischer Theologie’ auseinandergesetzt und ideengeschichtlich nachskizziert, dass der säkulare Staat und säkulare Ideologien aus religiösen Vorstellungen erwachsen sind und, wenn auch in verweltlichter Form, an sie rückgebunden bleiben.
Der mit Schmitt befreundete Hugo Ball, Spiritus Rector des Dadaismus, ging in seinen, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs entstandenen Brandschriften ‚Zur Kritik der deutschen Intelligenz’ und ‚Die Folgen der Reformation’ noch viel weiter — und vor allem auf den deutschen Protestantismus los. Von Luther über Hegel bis zu Bismarck und die deutschen Generäle des Ersten Weltkriegs zog Ball darin eine verheerende Traditionslinie eines meist verkappten Protestantismus, der sich in moralischer Selbsterhöhung und angemaßter Welterrettung gefällt.
Würde Ball noch unter uns weilen, dann würde er in seinen Traktaten heute als weiteres Beispiel vermutlich auch die Pastorentochter Angela Merkel anführen — die demnächst in Begleitung von Barack Obama beim Evangelischen Kirchentag auftreten wird. Bei eben diesem Deutschen Evangelischen Kirchentag hatte jahrelang auch Kathrin Göring-Eckardt, aktuell Vorsitzende und Spitzenkandidatin der deutschen Grünen, eine führende Funktion inne. Diese direkte Verbindung von Religion und Politik ist bei den Grünen selten, obwohl gerade auch bei ihnen immer wieder religiöse Elemente mitschwingen — von Essensgeboten bis zu einem starken Schuld- und Sühne-Komplex bei den Themen Umwelt und Klima.
Flüchtlinge als Gottesgeschenk
Berühmt-berüchtigt geworden ist eine Rede Göring-Eckardts vor der Synode des Evangelischen Kirchentages im November 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Darin prophezeite sie, dass durch die Flüchtlinge Deutschland nun „religiöser, bunter, vielfältiger und jünger” werden würde und verkündete die frohe Botschaft:
„Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt!”
Katrin Göring-Eckardt
Das Quasi- oder Krypto-Religiöse vieler „Refugees Welcome“-Begeisterten ist selten so klar und deutlich in den Vordergrund getreten wie hier: Die Flüchtlinge als Gottesgeschenk, die einer schuldhaften und sündigen Gesellschaft die Erlösung bringen. Wobei der Erlöser gar nicht mehr vom Himmel zu steigen braucht — er steigt praktischerweise gleich am Bahnhof aus dem Zug. Und erlöst uns so von der Erbsünde des Kolonialismus, dem Kainsmal des Nationalsozialismus und Todsünden wie der Umweltzerstörung und der Ausbeutung der Dritten Welt.
Auch die Forderung „No Border, No Nation!“ sollte man vielleicht vor diesem Hintergrund verstehen — und folglich weniger als anarchistische Utopie und mehr als den Versuch, der alten Vision der „Communitas Christiana“ neues Leben einzuhauchen. Wobei diese Gemeinschaft heute selbstredend nicht mehr nur die Christenheit, sondern gleich die gesamte Menschheit umfasst. In ihr gibt es keine Nationen, keine Völker, keine Kulturen, keine Religionen, keine Geschlechter mehr. All diese Sonderungen gilt es endlich zu überwinden und abzustreifen, um in einem allumfassenden Großen aufzugehen. Eine Art Reich Gottes — nur ohne Gott. Dafür mit allen Menschen dieser Welt. Und gleich jetzt und hier auf Erden.
Wehe, wenn sie losgelassen…
Das Phänomen des religiösen Idealismus und Glaubenseifers, die sich von der Religion losgelöst haben und ziellos in der Welt herumschwirren, ist übrigens alles andere als neu. Bereits 1908 hat es der katholische Schriftsteller G.K. Chesterton (der Vater des berühmten „Pater Brown“) in seinem Buch „Orthodoxie“ wie folgt beschrieben:
Wenn ein religiöses System auseinanderbricht (wie es in der Reformation war), werden nicht nur die Laster losgelassen. Die Laster werden zwar in der Tat losgelassen und wandern umher und richten Schaden an. Aber die Tugenden werden genauso losgelassen, und die Tugenden verwildern viel mehr und verursachen schrecklicheren Schaden. Die Welt ist voll von den alten, christlichen Tugenden, die verrückt geworden sind. Die Tugenden sind verrückt geworden, weil sie von einander isoliert wurden und jede allein für sich umherwandert.
Als Beleg für Chestertons These könnte auch das heutige Schweden gelten. Einst Hochburg des Protestantismus und noch dazu eines sehr strengen Protestantismus, gefällt sich das heute weitgehend nach-christliche Land seit einiger Zeit in seinem Selbstbild als moralische Supermacht und Leuchtturm der politischen Korrektheit. Auf YouTube findet sich dazu ein Interview mit dem Wirtschaftswissenschafter Tino Sanandaji, in dem dieser mit kritischem Blick den fanatischen Multikulturalismus und Anti-Rassismus der schwedischen Gesellschaft als eine Art Ersatzreligion entlarvt:
»Sweden is one of the most secular countries in the world. They’ve lost their moral grounding, because they — and their elites in particular — are aggressively anti-religion. But people, of course, need some sort of spirituality, morality, some values. And instead their values are anti-racism. So they created this alternative reality for themselves, where it’s the 1930s and they are the guys fighting Hitler… If you want, you can perhaps find an explanation in the lack of values. And people fill it up with something else. It’s a quasi-religion, it’s a secular religion.«
In Schweden lässt sich auch gut die dunkle Seite dieser säkularen Ersatzreligion beobachten. In Gestalt eines rigiden Dogmatismus, der keinen Abfall vom wahren Glauben duldet und Abweichler gnadenlos mit Ächtung und Ausschluss aus der Gesellschaft bestraft (auch im deutschen Sprachraum hallt im aktuell fast schon wahllos gebrauchten Etikett „Hetzer!“ ein Echo des alten kirchlichen Bannwortes „Ketzer!“ nach).
»The New Religion«
Ähnlich, wenn nicht noch schlimmer die Situation derzeit in den USA. Dort hat der Moralpsychologe Jonathan Haidt, Autor des bahnbrechenden Buches ‚The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion’, Anfang April in einem Interview mit dem ‚Wall Street Journal’ das zelotische Auftreten linksradikaler Studierender gegen unliebsame Meinungen an immer mehr amerikanischen Universitäten als „New Religion“ klassifiziert:
»These believers are transforming the campus from a citadel of intellectual freedom into a holy space — where white privilege has replaced original sin, the transgressions of class and race and gender are confessed not to priests but to „the community,“ victim groups are worshiped like gods, and the sinned-against are supplicated with „safe spaces“ and „trigger warnings“.«
Vielleicht zeigen derlei Entwicklungen auch nur, dass tief im Menschen und in menschlichen Gemeinschaften eine Sehnsucht nach absoluten Wahrheiten, nach Reinheit im Denken und Glauben und nach Verfolgung von Andersdenken oder Andersgläubigen schlummert. Ob diese Sehnsucht dann im Namen und Gedankengebäude einer Religion, einer weltlichen Ideologie oder einer anderen fixen Idee ausgelebt wird, ist im Grunde egal. Wichtig bleibt stets, religiöses oder quasi-religiöses Eiferertum und seine Exzesse in Schach zu halten. Kein leichtes Unterfangen, denn gegen religiöse Überzeugungen und Glaubenslehren richten Ratio und Argumente wenig aus. Der Reiz des Glaubens liegt ja geradezu im „Credo, quia absurdum“ — also im: „Ich glaube, nicht obwohl, sondern eben weil es absurd ist“.
Dennoch ist wohl schon viel erreicht, wenn man sein Bewusstsein dafür schärft, dass Religion auch in aufgeklärten Zeiten nicht so einfach aus der Welt verschwindet und dass insbesondere ihre negativen Seiten nur allzu gerne in säkularisierter Form und im Kostüm von Politik und Moral wiederauferstehen.